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Über das Verhältnis von Kirche und Diakonie, Berufskolleg, Bekämpfung von Kinderarmut und mehr – Präses Schneider nach Besuch der Diakonie Michaelshoven im Interview

Herr Schneider, welche Eindrücke haben Sie bei Ihrem Besuch in Michaelshoven
gewonnen?
Die Begegnung mit der Diakonie Michaelshoven war für mich höchst interessant. Ich habe in Ihrer Einrichtung sehr engagierte Menschen kennengelernt, die kompetent und kreativ diakonisches Handeln leben. Und ich habe wahrgenommen, dass sich bei Ihnen Kirche als Diakonie entfaltet. Das zeigt sich für mich unter anderem darin, dass Sie immer wieder die Verbindungen suchen zur Gemeinde vor Ort und im Kirchenkreis, aber auch darin, welche Rolle bei Ihnen Gottesdienste und christliche Fortbildungen spielen.

Hat Sie etwas besonders beeindruckt?
Besonders beeindruckt hat mich der Besuch des Unterrichts in der Berufsfachschule für Gymnastik. Es war interessant zu sehen, wie der Lehrer den jungen Erwachsenen das Thema „Förderung der vestibulären Wahrnehmung“ mithilfe des Großtrampolins nahebrachte. Es hat mich fasziniert, wie die Schülerinnen und Schüler mit Freude und Begeisterung die Spiele und Übungen auf dem Großtrampolin in liegender, sitzender, kniender sowie aufrechter Position mit und ohne Material (Stuhl, Reifen, Matte etc.) absolvierten. Es ist beeindruckend zu sehen, welche Chancen an diesem Berufskolleg Menschen eröffnet werden. Es ist gut, dass es eine solche Einrichtung gibt, denn nur so werden Jugendliche befähigt, mutig und selbstbewusst ins Leben zu starten.

Die evangelische Kirche hat einen Reformprozess unter der Überschrift „Kirche der Freiheit – Perspektiven im 21. Jahrhundert“ initiiert. Was wäre für Sie eine besonders nötige Veränderung?
Zunächst halte ich es für ganz wichtig, dass wir diesen eingeschlagenen Weg jetzt weitergehen. Und ich freue mich, dass wir mit der neuen Ratsvorsitzenden eine Person an der Spitze der EKD haben, die den Reformprozess weiter vorantreiben wird. Für uns vor Ort wird es in den nächsten Jahren entscheidend darauf ankommen, dass wir in allen Bereichen unseres kirchlichen Handelns Kooperationen entwickeln, und zwar mehr und mehr über die Grenzen der einzelnen Kirchengemeinden hinaus. Hierin sehe ich eine große Chance, auch zukünftig wichtige Arbeitsfelder unserer Kirche aufrechterhalten zu können.

Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund das Verhältnis von Kirche und Diakonie? Was ist für ein verbessertes Miteinander zu tun?
Auch das Verhältnis von Kirche und Diakonie gehört dazu. Ich sehe große Möglichkeiten, dass die Zusammenarbeit zwischen Kirche und Diakonie noch weiterentwickelt werden kann und dass die inhaltliche Verzahnung noch ausbaufähig ist.

Im Augenblick ist die globale Wirtschaftskrise ein zentrales Thema der öffentlichen Diskussion. Welche Auswirkungen befürchten Sie in Deutschland?
Die Auswirkungen sind sicherlich immer noch nicht in ihrer Fülle absehbar. Eines jedoch ist klar: Wir sind noch lange nicht durch. Das wird sich an den Arbeitslosenzahlen im Jahr 2010 zeigen und wir werden in Deutschland bestimmt noch einige Probleme bekommen. Hinzu kommt, dass wir den stummen Sozialabbau aufhalten müssen. Kirche und Diakonie sind Anwälte der Schwachen und sozial Benachteiligten. Wir müssen der neuen Regierung sehr genau auf die Finger sehen, dass nicht am falschen Ende gespart wird.

Die Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland ist der Evangelischen Kirche im Rheinland, aber auch Ihnen ganz persönlich ein besonderes Anliegen. Haben Sie konkrete Vorschläge zur Armutsbekämpfung an die politisch Handelnden?
Kinderarmut sollte nie für sich betrachtet werden. Die Lage der Kinder ist die Lage der Familien. In erster Linie brauchen Kinder stabile Eltern, und ihre Mütter und Väter brauchen existenzsichernde Erwerbsarbeit. Darüber hinaus muss eine Infrastruktur geschaffen werden, die den heutigen Lebenswirklichkeiten der Familien entspricht. Ich meine, dass die beitragsfreien Betreuungs- und Bildungsangebote für Kinder konsequent nach den Kriterien der Qualität und der Verlässlichkeit auszubauen sind. Ich glaube nicht, dass das Kriterium der Qualität bislang wirklich gesellschaftlicher Konsens ist. Ich glaube genauso wenig, dass wir den gesellschaftlichen Konsens darüber haben, unsere finanziellen Ressourcen in erster Linie in die Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur für Kinder zu stecken und in zweiter Linie in finanzielle Transferleistungen. Hier haben wir nach wie vor viel aufzuholen. Hier ist politisch noch viel zu leisten. Wir haben in dem Bereich der Versorgung der Kinder, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der neuen Familienkonstellationen in Deutschland einfach nicht rechtzeitig modernisiert. Dass zum Beispiel die Sicherstellung des warmen Mittagessens für alle Kinder in unserem reichen Land ein solches Stückwerk, ein solches Problem ist, lässt sich durch nichts rechtfertigen. Dass Ganztageseinrichtungen mit der entsprechenden, angemessenen Versorgung (Mahlzeiten, Schulbücher und -material, Fahrtkosten) eine unaufgeregte Selbstverständlichkeit werden müssen, halte ich für zentral. Es hilft den Kindern und ihren Eltern.

Könnte es nicht auch eine Aufgabe von Kirche sein, Menschen zu ermutigen, selber mehr Verantwortung für sich und andere zu übernehmen?
Ein ganz klares Ja. Wir haben uns auf der letzten EKD-Synode mit dem Thema Ehrenamt beschäftigt. Wir in der Kirche wollen Menschen dazu ermutigen, Verantwortung wahrzunehmen und damit ein Stück Verantwortung für sich und für andere zu übernehmen. Das tut nicht nur not, sondern bereichert auch die Menschen, die sich das zugetraut haben.

Herr Schneider, gibt es für Sie eine Bibelstelle, die Ihnen besonders viel bedeutet? Warum?
„Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Psalm139,5. Das ist für mich eine sehr bedeutsame Bibelstelle, weil ich dies in meinem Leben immer erfahren habe: Von Gottes wunderbarer Nähe umgeben zu sein, in immer wieder wunderbarer Weise bei ihm geborgen zu sein – in guten wie in schweren Tagen. Unser guter Gott umgibt uns von allen Seiten und weiß, wie es uns geht. Das ist eine wunderbare Zusage, mit und aus der ich leben kann.

Text: MIt freundlicher Genehmigungh aus
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