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Marten Marquardt bei seinem Vortrag in der Trinitatiskirche in Köln

Traum und Alptraum: Der Kampf Martin Luther Kings und seiner rabbinischen Freunde für menschliche Freiheit und Würde

Ein hochinteressantes Thema, das eher selten auf der Agenda zu finden ist, wurde jetzt in der Trinitatiskirche verhandelt. „Traum und Alptraum: Der Kampf Martin Luther Kings und seiner rabbinischen Freunde für menschliche Freiheit und Würde“, lautete die Überschrift, unter der die Melanchthon-Akademie in die Trinitatiskirche eingeladen hatte. Die Veranstaltung war Teil der Reihe „Offene Gesellschaft?!? Wie wollen wir in Zukunft in Verschiedenheit zusammenleben?“ Nachdem Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchthon-Akademie, und Dorothee Schaper, die Gäste begrüßt hatten, referierte Marten Marquardt, Bocks Vorgänger als Akademie-Leiter. „Es geht im Folgenden nicht um eine Relativierung deutscher Schuld an der Schoah“, erklärte der, um Missverständnissen vorzubeugen. Es gehe um die Erweiterung der Perspektive, um ein weiteres Motiv der europäischen, der westlichen Zivilisationsmisere, die Marquardt mit den Schlagworten „Arbeit und Vernichtung“ verband.

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer habe den Begriff der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GMF) in die Debatte eingeführt. Darunter verstehe er Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Islamfeindlichkeit und vieles mehr, das einzelne Gruppen ausgrenze. Der Begriff GMF ermögliche es theoretisch, Antisemitismus und Rassismus in Beziehung zu setzen, „ohne die je eigene spezifische beider Phänomene zu leugnen“, so Marquardt: „In der politischen Praxis der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung haben sich die Widerstandsbewegungen gegen diese beiden Formen der GMF gefunden und zusammengetan. Der Kampf um Freiheit und Gleichberechtigung, den die Nachkommen afrikanischer Sklaven in den USA Seite an Seite mit Überlebenden der Schoah in Europa vor allem in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts geführt haben, macht deutlich, wie eng führende Köpfe beider Seiten Rassismus und Antisemitismus verknüpft sehen.“

An dieser Stelle kam Marquardt zurück auf die anfangs eingeführten Schlüsselbegriffe. „Die Begriffe Arbeit und Vernichtung verbinden an einem zentralen Punkt die Wirklichkeit der amerikanischen Sklavenhaltergesellschaft und der deutschen Vernichtungslager in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts. Sklaven wurden in den USA gehalten, um für die weißen Herren pausenlos zu arbeiten. Ihre Vernichtung durch Arbeit wurde dabei in Kauf genommen. Juden wurden in die deutschen Konzentrationslager verbracht, um sie zu vernichten. Ihre vorherige Sklavenarbeit wurde programmatisch eingeplant, unter anderem, damit sie sich an den Kosten der eigenen Vernichtungsaktionen beteiligen konnten. Sklaven wurden vernichtet durch Arbeit, Juden haben gearbeitet, um vernichtet zu werden.“

Ein weiterer Schlüsselbegriff für Marquardt ist der „Traum“: „Große Träumer waren die schwarzen Sklaven. Ihre Träume waren ihr einziges Mittel gegen die totale Resignation. Sie erfuhren die biblischen Psalmen und ihre schwarzen Spirituals wie unaufhörliche Impulse zur Rebellion gegen die Sklaverei.“ Diese Träume wurden immer häufiger politische Aktionen. Sklaven flüchteten schon vor dem amerikanischen Bürgerkrieg in den sklavenfreien Norden des Landes. Rosa Parks weigerte sich 1955, ihren Sitzplatz im Bus an einen Weißen abzutreten. Und schließlich nahm Martin Luther King den Kampf gegen die Rassentrennung auf. Dem gegenüber steht der Alptraum der Shoah, den Jizchak Katznelson kurz vor seinem Tod in den Gaskammern von Birkenau in Worte gefasst hat: „Ich hatte einen Traum, einen schrecklichen Traum: Mein Volk war ausgelöscht. Ich wache auf mit einem Schrei. Mein Traum war Wirklichkeit. So ist es wirklich gekommen. So ist es mir wirklich widerfahren.“

Und dann gibt es noch den Text „Jossel Rakovers Wendung zu Gott“. Darin erzählt er von einem der letzten jüdischen Ghettokämpfer in Warschau: „Ich glaube an den Gott Israels, auch wenn Er alles getan hat, dass ich nicht an Ihn glauben soll. Ich glaube an Seine Gesetze, auch wenn ich Seine Taten nicht rechtfertigen kann. Jetzt ist meine Beziehung zu Ihm nicht mehr die eines Knechtes zu seinem Herrn, sondern die eines Schülers zu seinem Lehrer. Ich beuge mein Haupt vor Seiner Größe, aber die Rute werde ich nicht küssen, mit der ER mich schlägt… Und das sind meine letzten Worte an Dich, mein zorniger Gott: Es wird Dir gar nichts nützen! Du hast alles getan, dass ich an Dir irre werde, dass ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber gerade so, wie ich gelebt habe, als unbeirrbar an Dich Glaubender.“ Marquardt verwies auf die Spirituals der Sklaven in Nordamerika, die darin immer wieder ihr Leid klagten. Aber dann endeten die Lieder immer wieder mit einem „Halleluja“ und einer Gottpreisung. „Schwarze und Juden haben offenbar gemeinsam diese Erfahrung einer abgrundtiefen Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit und einer darin dennoch nicht zu unterdrückenden Hoffnungskraft“, folgerte der Referent.

Als Martin Luther King am 28. August 1963 auf den Stufen des Lincoln Memorials seine berühmte Rede „I have a dream“ gehalten habe, habe unmittelbar vor ihm der deutsche Rabbiner Joachim Prinz gesprochen: „Ich spreche zu Ihnen als ein amerikanischer Jude. Als Amerikaner teilen wir die tiefe Sorge von Millionen Menschen über den Schimpf und die Schande der Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die die große amerikanische Idee zu einer Farce werden lassen.“ Prinz habe, so Marquardt, zu den beiden Ursachen für die Verwundungen unserer Zivilisation eine dritte hinzugefügt. Er stelle neben das Totarbeiten in der Sklaverei seit 300 Jahren und die Vernichtungswellen in der Schoah im 20. Jahrhundert als Drittes das Totschweigen in der bürgerlichen Gesellschaft heute. Marquardt schloss: „Wenn nun am 28. August 1963 aus Deutschland entkommene Juden und von afrikanischen Sklaven abstammende Schwarze gemeinsam unter dem Lincoln Memorial in Washington für Bürgerrechte und Freiheit aller Menschen demonstrieren, dann rühren sie gemeinsam mit ihren jüdischen und ihren amerikanischen Träumen an die noch immer offene Wunde unserer gesamten Zivilisation.“

Nach Marquardt sprach Lucas Johnson, Koordinator des Internationalen Versöhnungsbundes. Johnson ist Theologe, stammt aus Atlanta in den USA, hat ein Jahr in Göttingen studiert und nennt Martin Luther King und dessen Mitstreiter als seine geistigen Ziehväter. Er wies auf einige Aspekte in der politischen Arbeit von Martin Luther King hin, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kämen. Beispielsweise sei Kings Eintreten gegen den Vietnam-Krieg in der Bürgerrechtsbewegung durchaus umstritten gewesen. Man habe befürchtet, dass der damalige Präsident Lyndon B. Johnson in Schwierigkeiten geraten könnte. Der habe als Befürworter der Bewegung gegolten. Martin Luther King habe auch die ökonomische Frage zum Thema gemacht, die Verarmung großer Teile der schwarzen Bevölkerung. „Das weiße Establishment hatte große Angst, dass die Schwarzen Kommunisten werden“, sagte Lucas Johnson. Das FBI habe die Bürgerrechtsbewegung infiltriert, um etwaige Kommunisten aufzuspüren. Manche seien damals nach Kuba geflohen. Johnson wies auch auf den Wahlkampf von Richard Nixon um das Präsidentenamt hin. Dem sei klar gewesen, dass er eine „rassenneutrale Sprache“ benutzen musste. Als habe er sich immer für „Recht und Ordnung“ und damit gegen die Bürgerrechtsbewegung ausgesprochen, ohne diese zu nennen. „Der Ruf nach Recht und Ordnung ist aktuell auch sehr häufig zu hören. Mit diesem Ruf wird die rassistische Strategie verschleiert, die dahinter steckt.“ Darüber hinaus seien in amerikanischen Gefängnissen überproportional viele Schwarze inhaftiert.

„In den USA sitzen mehr Leute im Knast als in China“, berichtete Johnson. Die meisten amerikanischen Gefängnisse lägen in Gebieten, die von sozial schwachen Weißen bewohnt würden. „Die Menschen dort sind von den Jobs in den Gefängnissen abhängig. Es hat schon Demonstrationen gegen Gefängnisschließungen gegeben.“ Deshalb würde dafür gesorgt, dass die Gefängnisse immer gut belegt seien. Johnson hat aber die Hoffnung auf Verbesserungen nicht aufgegeben. „Viele Menschen sind wach geworden. Auch in den USA und in Europa merken immer mehr Leute, dass grundsätzlich etwas nicht stimmt.“

Text: Rahmann
Foto(s): Rahmann/Schaper