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Trauerpredigt für Dorothee Sölle; Hinweis auf Kölner Gedenkveranstaltung

5. Mai 2003,
Predigt im Trauer- und Dankgottesdienst für das Leben von Dorothee Sölle in St. Katharinen in Hamburg, gehalten von Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter


1 Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.
2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.
3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;
4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!
Offenbarung 21, 1-5a

Lieber Fulbert, liebe Familie, liebe Gemeinde!
Zwei große Worte stehen über dieser Stunde: Der Tod und die Liebe. Der Tod hat eine der großen Frauen unserer Zeit hinweggenommen: Dorothee Sölle. Mit schnellem Griff hat er viele von uns zu Waisen gemacht: Wir, denen die lebendige, prophetische und poetische Stimme dieser Frau schmerzlich fehlen wird. Der Tod und die Liebe: Sie haben diese große Gemeinde zusammengeführt aus allen Teilen des Landes, ja der Welt: Die Liebe zu Dorothee und die Liebe zu dem, was sie uns in immer neuen Anläufen nahe bringen wollte: Das befreiende Evangelium von Jesus Christus, dem demütigen Gott und armen Menschen von Nazareth und die lebendige Erfahrung Gottes , der oder die oder das ihr, mystisch weit, immer stärker „ohn‘ Warum“ wurde. Ihre große Sehnsucht nach authentischer Gottesbegegnung sprach mit starker Stimme in unsere selbstsüchtige und ungnädige Zeit.

Dorothee Sölle starb mitten in der Osterzeit. Welch ein Widerspruch. Mit österlicher Lebensfreude atmet uns das Leben an. Vögel bauen Nester, die Bäume stehen voller Laub. Die Frauen machten sich an jenem ersten Ostermorgen auf den Weg und haben das leere Grab gefunden. „Tod“, so fragen wir empört, „was hast du heute und hier zu suchen?“ Wir hatten uns doch gerade an den Gedanken gewöhnt, dass Dorothee nach ihrem ersten Herzinfarkt noch einmal davongekommen war. Sie wollte ihr Buch über „Mystik und Tod“ fertig schreiben. Überall beginnt neues Leben – und sie stirbt. Kein Zeitpunkt im Kirchenjahr könnte unpassender sein für diesen plötzlichen Abschied.

Dieser Tod, liebe Familie, greift tief in euer persönliches Leben ein und in das Leben einer großen Gemeinde, die Dorothee gesammelt hat: Fremde Menschen weinen am Telefon wie persönlich Leidtragende. Unzählige Mails fliegen im weltweiten Web von New York bis Soweto, Seoul bis La Paz mit der traurigen Nachricht. „Meine theologische Existenz ist ohne sie nicht denkbar“ sagt der eine und die andere: „Sie zu hören, war eine Sternstunde in meinem Leben. Sie hat mich unendlich getröstet.“ Menschen lesen sich gegenseitig Dorothees Gedichte vor und es ist wie immer: Es fällt Licht auf ihr Leben. Worte wie Brot, Texte voll Klarheit und konkreten Lebens, ehrlich, genau, licht. Sie hat in ihren Texten viel Leben ausprobiert, exemplarisch gelebt, sie ist auch gestolpert und gefallen, aber ihre Botschaft ist: „So ist das Leben. Lebe!“ Das habe auch ich von ihr schon vor langen Jahren gelernt. Wir werden es noch erleben, was sie selbst einmal empfunden hat: “ Es gibt keinen Maßstab für das Fehlen, mit dem du uns fehlst.“

Einen neuen Himmel und eine neue Erde , das sieht der Seher Johannes auf Patmos in seiner Verbannung, in der großen Vision der Offenbarung. Eine neue, anders beschaffene Erde als die, die wir gewohnt sind: Eine andere Art zu leben, eine andere Art zu denken, eine neue Art zu lieben, zu handeln und zu teilen. Es ist das Neue eines Christus-gemäßen Lebens, das die Erde zu einem neuen Ort des Lebens machen wird. Diese Vision hat Dorothee Sölles Denken von Grund auf geprägt. Und sie hat nimmermüde uns mitgenommen auf diesen Weg. Dafür wird sie uns in der Kirche und in der Gesellschaft besonders fehlen. Denn unsere alte Erde – das artikulierte sie unverblümt und scharf – ist so blutbesudelt, von Kriegen zerrissen, von sterbenden Wäldern, verdorrenden Feldern. Auf unserer alten Erde lernen Kindersoldaten in Afrika mit leichtgängigen Gewehren aus Europa das Töten. Auf ihr werden fantastisch präzise Krieg geführt wie gerade gestern, die den imperialen Mythos von der Allmacht der Waffen nähren und den Zerfall des Völkerrechts befördern. Auf ihr verhallen die Schreie der Kinder ungehört, denen die Mütter kein Brot geben können.

Wie beredt auch sprach sie vom neuen Himmel, den wir brauchen, weil, wie sie in ihrer unvergessenen, hart umstrittenen Rede bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983 gesagt hat, „unser Land die Geschichte mit dem Geruch von Gas befleckt hat.“

Einen neuen Himmel und eine neue Erde, dafür hat sie nicht nur gearbeitet, dafür hat sie auch gesungen, gedichtet, geliebt und gelacht, Menschen gesammelt: Keine Fata Morgana aus dem Jenseits, sondern die Befestigung dieser Vision in unseren Herzen und Händen, eine Hoffnung, die gar nicht anders kann als über den eigenen Tod hinaus reichen, weil unser Tun immer Stückwerk ist und zu viele menschliche Hoffnungsprojekte scheitern . Ein neues Jerusalem gehört auch dazu, das aus der Asche all dessen aufersteht, was Hass, Gewalt, Gier und Gottlosigkeit heißt.

Der neue Himmel und die neue Erde, das war eines ihrer Lebensthemen. Das andere aber war eine neue Sprache für das Sprechen von und mit Gott.

Johannes auf Patmos sagt dazu: „Und siehe, die Hütte Gottes bei den Menschen.“ Gott verlässt den himmlischen Thron, um nahe und solidarisch bei den Menschen zu wohnen. Dorothee Sölle hat diese neue Wohnung Gottes, die Hütte, das Zelt, theologisch wiederentdeckt, neu buchstabiert, sprachfähig gemacht. „Gott will nicht allein sein“ sagte sie salopp. Um diese neue Sprache und neuen Bilder zu befestigen, musste die alte Sprache, mussten die alten Bilder vom einsamen allmächtigen Herrscher im Himmel demontiert werden. Das eine war nicht ohne das andere zu haben. Viel Schelte bis hin zum Hass hat ihr das eingebracht und keinen Platz an den Theologischen Fakultäten Deutschlands, was ich für eine der bemerkenswertesten Torheiten der Kirchengeschichte der Nachkriegszeit halte. Dennoch hat Dorothee Sölle in die Gottesfinsternis des 20. Jahrhunderts wie keine andere theologisches Licht getragen. Nach Auschwitz, nach dem „Tode Gottes“ hat sie es den Menschen in unseren Kirchen und Gemeinden ermöglicht, ehrlich Gott zu sagen, Gott zu denken, Gott zu meinen, Gott zu glauben. Sich selbst und uns Frauen hat sie den Weg vom Dunkel ins Licht der Geschichte gebahnt und so ihren eigenen und unseren Auszug aus den Kirchen aktiv verhindert. Dorothee war, allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz- eine Kirchenfrau. Auf meine Frage, ob ich das Bischofsamt in Nordelbien antreten solle, sagte sie: „Ja, natürlich sollst du das.“ Ganz Ohr, aufmerksam und Lernende war sie für die Theologie der Enkelkinder: Da lernte sie das Staunen und liebte es, den Kindern von Gott als dem Backofen voller Liebe zu sprechen.

Der neue Himmel und die neue Erde- die neue Sprache für Gott- beides war zentral in ihrem Leben. Der schwere Weg, den sie gegangen ist, in all den Widersprüchen- die Du, Fulbert, auch in euren praktisch-kontroversen Dialogen benannt hast- Wie kann man denn atheistisch an Gott glauben? – war getragen von der Gewissheit, die auch wir heute wissen dürfen. „Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen“. Ein göttlich- tröstliches Tränentuch wird uns gereicht. Wie viele Tränen hat Dorothee Sölle selbst geweint, wie viele weinen wir in unserem Leben über einen Lebensschmerz oder über ein schmerzliches Lebensglück. „Gib mir die Gabe der Tränen Gib mir die Gabe der Sprache Gib mir das Wasser des Lebens“, schrieb sie in einem Gedicht- und Gott hat ihr dies alles gegeben. Mit dieser Gabe tröstet sie uns, gerade heute. Für all dies können wir Gott nur danken.

Nur eine Stelle dieser wunderbaren Prophezeihung der Johannes-Offenbarung wird Dorothee nicht gerne gelesen haben. Johannes prophezeiht, „dass das Meer (im Denken der Orients der Ort alles bedrohlich Bösen) nicht mehr sein wird.“ Nichts war so sehr ihr Element wie das Wasser. Beim Anblick eines Sees begann sie sogleich ihre Schuhe und Kleider von sich zu werfen und sich hinein zu stürzen. Da wuchs ihr eine Kraft zu, die nur die Elemente zu geben vermögen. Einmal sagte ich zu ihr: „Irgendwann werden Dir noch Kiemen wachsen.“

Sie wollte im Tod ein Tropfen im Meer der Liebe Gottes werden, das genüge ihr, sagte sie. Das war ihr mystisches Todesbild. Denn auch ein Tropfen vermehrt die Kraft des unermesslichen Meeres, auch ein Tropfen tritt ein in die Tiefe des Seins. Wenn sie ein Tropfen geworden ist, dann ist sie gewiss – so habe ich zu Fulbert gesagt – ein goldener Tropfen im Meer der Liebe und Gerechtigkeit Gottes. Vielleicht aber lässt es sich auch so verstehen, dass in uns der Wunsch ist, dahin zurückzukehren, woher wir kommen: In einem kleinen Säckchen voll Wasser, im Mutterleib, beginnt unser Leben, das heißt auf Hebräisch „rechem“, und das steckt in dem Wort „rachamim“ , Barmherzigkeit, compassion : das göttlich- mütterliche Wasser des Lebens, das Woher aller Barmherzigkeit, die Gott selbst uns schenkt. Dahin zurück.
Heute legen wir das reiche, begnadete und große Leben der Dorothee Sölle mit großem Dank zurück in Gottes Hand. Sie war eine der Ostermorgenfrauen. Sie wusste um die Gräber. In der Solidarität mit den Oster-Menschen aller Jahrhunderte ist sie durch die Nächte der persönlichen und gemeinsamen Geschichte unseres Landes gegangen, manchmal mit schriller und verletzender Stimme. Sie musste sich auch einmal von einem Dritte-Welt-Menschen fragen lassen: „Warum, Frau Sölle, fangen Sie erst bei Auschwitz zu denken an und ignorieren, dass die Deutschen zuerst in Namibia die Hereros ausgerottet haben?“
Am Ende des Offenbarungstextes steht das Versprechen: „Der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein.“ In aller Brüchigkeit des Lebens hat Dorothee vorgelebt, dass man Trauer in Kraft verwandeln kann. Damit hat sie die österliche Struktur der menschlichen Existenz bewahrheitet: Die Trauer der Verlassenheit in einen Schrei der Empörung verwandeln, die Trauer über die Todesnähe in die Stille und Gewissheit, Gott nah zu sein.
Als wir vor zwei Wochen in unserem Haus in Lübeck in kleiner Runde ein österliches Gespräch führten, sagte sie: „So ist es mit dem Tod. Alles geht weiter.“ Das ist ihre Botschaft für uns. „Alles geht weiter.“ Die Liebe geht weiter, das Beten und Tun des Gerechten gehen weiter. Brot wird gebacken. Kinder werden gezeugt und geboren, das Weizenkorn fällt in die Erde und wächst im Acker und in den Herzen der Menschen. Wir werden Dorothees Bücher lesen und sie wird weiter zu uns sprechen. Sie hat den Stab an uns abgegeben: „Liebt und arbeitet für das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit.“ Ja.wir werden eigene Wege finden, um das einzulösen.
Noch ist ihr sterblicher Leib hier in unserer Mitte. Aber sie wird längst in Abrahams Schoß oder dem Schoß der Sara sein, vielleicht ein Tropfen im Meer der Liebe Gottes, vielleicht beim himmlischen Gastmahl mit all den Armen der Erde, überall nahe bei Gott. Und ihr Name, unverwechselbar, unauslöschbar, wird im Buch des Lebens geschrieben stehen.

Deshalb gibt es keine passendere Zeit zum Sterben als die österliche. Alles geht weiter bei Gott, mit Gott. „Der schöne Ostertag! Ihr Menschen kommt ins Helle. Christ, der begraben lag, geht heut aus seiner Zelle.“ (EG 117) Ihr Menschen, ihr, wo immer ihr jetzt herkommt, lieber Fulbert, liebe Kinder und Enkelkinder, liebe Angehörige, kommt ins Helle.

Wir sagen Gott großen Dank für das wunderbare, reiche, schwere, konfliktreiche, schöne Leben von Dorothee Sölle, einer wahren Prophetin unserer Zeit, für Eure eheliche Liebe und Verlässlichkeit, für die Freude, die sie mit ihren Kindern und Enkelkindern erleben durfte. Dorothee heißt: Geschenk Gottes. Sie war es, sie bleibt es und die großen Hoffnungen, die sie trug, werden wir gewiss nicht mit ins Grab legen. Versprochen. Wir verlassen uns auf das Wort der Offenbarung: „Siehe ich mache alles neu.“ Amen

Noch ein Hinweis:
Am Dienstag, den 3. Juni 2003, veranstaltet der Freundeskreis Dorothee Sölle, Köln, um 19.30 Uhr in der Antoniterkirche (Schildergasse 57) eine Gedenkveranstaltung
für die 1929 in Köln geborene Theologin, die ja auch für und in Köln – vor allem mit dem „politischen Nachtgebet“ – eine wichtige Rolle gespielt hat.
Informationen per E-Mail beim Freundeskreis.

Text: Bärbel Wartenberg-Potter
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