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Tagung in der Melanchthon-Akademie: „Identitäten in der Migrationsgesellschaft“

Die Tagung in der Melanchthon-Akademie beginnt mit dem Ein-Personen-Stück „Der Zigeunerboxer“ von Rike Reiniger, gespielt von Andreas Kunz: Ein junge Boxer mit schwarzen Locken ist Deutscher Meister im Halbschwergewicht geworden. Das Management von Max Schmeling interessiert sich für den souveränen, gewandten Faustkämpfer. Doch dann wird dem Sinto Johann „Rukeli“ Trollmann die Meisterschaft wegen angeblich undeutschen Verhaltens aberkannt – so tatsächlich passiert im Jahr 1933.

Zwei Tage lang ging es in Vorträgen, Workshops und Diskussionen um die Schwierigkeiten, auf die Flüchtlinge und Zuwanderer, aber auch im Land geborene Juden, bei der Suche nach einer Rolle in der Gesellschaft stoßen, wenn sie mit offener oder versteckter Ablehnung und Fremdenfeindlichkeit konfrontiert werden. Es wurde aber auch über konkrete Fragen, die diese Problematik für die Bildungsarbeit in allen Altersgruppen aufwirft, ausführlich gesprochen. Daher waren zahlreiche Pädagogen unter den 115 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der ausgebuchten Veranstaltung, zu der die Akademie eine Reihe namhafter Referenten geladen hatte.

Vorbehalte in der Aufnahmegesellschaft
Nach der Begrüßung durch Joachim Ziefle, Stellvertretender Leiter der Melanchthon-Akademie, betonte Dr. Marcus Meier, Geschäftsführer der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, in einem einleitenden Vortrag, dass Einwanderung nicht nur die Neuankömmlinge verändere, sondern in einem „dynamischen Restrukturierungsprozess“ auch die Aufnahmegesellschaft.
In einer bereits heterogenen Gemeinschaft wie der deutschen „Mehrheitsgesellschaft“ werde der Prozess allerdings von vielen Mitgliedern geleugnet, zugunsten einer konstruierten „nationalen Identität“ oder „Leitkultur“, der pauschal eine ebenso konstruierte „fremde“ Identität entgegengesetzt werde. Die Trennung in „Wir“- und „Sie“-Gruppen finde ihren extremen Ausdruck in offen rechtsradikalen Übergriffen, sei aber unterschwellig durchaus auch in an sich solidarischen Formen wie der Willkommenskultur anzutreffen.

Unterschiedliche Formen von Diskriminierung
Die Erzieherin und Diplom-Psychologin Dr. Astride Velho, Professorin für Soziale Arbeit mit Geflüchteten an der Frankfurt University of Applied Science, erklärte, dass Zuwanderer permanent mit ganz unterschiedlichen Formen von Diskriminierung konfrontiert seien. Dazu gehöre die „institutionelle Gewalt“, die die Betroffenen etwa mit der Ablehnung eines Asylantrags empfänden, ebenso wie der „Exotismus“ besonders engagierter Unterstützer, die gerade das vorgeblich „Andere“ oder „Fremde“ als interessant hervorheben. Auch in solchen zunächst einmal positiv wirkenden Äußerungen, aber vor allem natürlich mit den vielen unterschiedlichen Facetten des Rassismus, werde Flüchtlingen und Einwanderern ständig signalisiert, dass sie „nicht dazu“ gehörten. „Diese Erfahrung der Ausgrenzung könne zu schweren psychischen Belastungen führen, für die derzeit keine psychotherapeutische Behandlung bereitgestellt wird“, so Velho.

Seelische Störungen sind die Folge
Laut Velho könnten sich die resultierenden seelischen Störungen in einer geradezu verzweifelten Suche nach Anerkennung äußern. Als Beispiel nannte Velho ein kleines Mädchen, das erklärte, ihre Haut sei nur so dunkel, weil es zu lange in der Sonne gespielt habe – in Wahrheit sei sie weiß. So werde das Eigene abgewertet, als defizitär, nicht schätzenswert erlebt – eine Form von „Rassismus“, die aus dem Inneren der Betroffenen kommt.

„Wir“- und „Sie“-Trennung fördert Ausgrenzung
Dass Ausgrenzung häufig dort anzutreffen sei, wo sie niemand vermute, bestätigte auch Dr. Meron Mendel, Direktor der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, aus seiner Beratungspraxis. Bereits wenn von „jüdischen Mitbürgern“ die Rede sei, werde im Grunde zwischen „Wir“ und „Sie“ unterschieden: „Ich sage dann immer: Alle einmal ganz laut 'Juden' sagen‘“, erzählt Mendel. Auch wohlmeinende Lehrer, die nach antisemitischen Äußerungen mit ihrer Klasse ein jüdisches Museum besuchten, stellten damit einmal mehr in aller Deutlichkeit bestehende Unterschiede heraus. Insbesondere die Schule sei ein neuralgischer Punkt: Oft trauten sich die jungen Leute nicht, gegen subtile Formen von Antisemitismus zu protestieren, und wenn doch, würden sie häufig als Aggressoren wahrgenommen. „Das ist doch nicht so schlimm“, „Sei doch nicht so übersensibel“, lauteten die üblichen Beschwichtigungen der Lehrerinnen und Lehrer: „Damit nähmen sie den Schülern noch die Deutungshoheit über die zugefügten Verletzungen“, so Mendel. Hänseleien seien eben problematischer, wenn sie sich gegen eine Minderheit richteten.

Perspektive wechseln hilft
„Oft ist es die eigentliche Herausforderung, diskriminierendes Verhalten dort zu erkennen, wo eigentlich niemand diskriminieren will“, resümierte Anne Broden, Projektleiterin des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit (IDA) in Nordrhein-Westfalen. Dafür sollten die Teilnehmenden in den Workshops sensibilisiert werden; der Grundsatz lautete: Die jeweilige Situation einfach mal aus der Perspektive der Zuwanderer – beziehungsweise Juden – sehen.

Text: Hans-Willi Hermans
Foto(s): Hans-Willi Hermans