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„Tacheles“ reden vor der Wahl

„Tacheles“ heißt es Mittwochabends in der Lutherkirche. Diesmal bekamen Besucher eine besonders komfortable Wahlinformation, denn Pfarrer Hans Mörtter und Pfarrerin Anna Quaas hatten die Kandidaten des Wahlkreises Köln II, Prof. Heribert Hirte (CDU), Hans H. Stein (CDU), Elfi Scho-Antwerpes (SPD), Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen) und Matthias W. Birkwald (Die Linke) zur Diskussion eingeladen.

Nur zwei von vielen Themen
Von der breiten Themenpalette, die Mörtter und Quaas geplant hatten – Flucht und Asyl, insbesondere Abschottung der EU an ihren Außengrenzen gegen Flüchtlinge, bezahlbarer Wohnraum in Köln und in anderen Großstädten/ Milieuschutz, Hartz IV, Whistleblower und ihre Bedeutung für Demokratie und Menschenrechte, Fraktionszwang und Gewissensentscheidungen – kamen aus Zeitmangel nur zwei zur Sprache. Asylpolitik und die Abschottung der EU-Grenzen war ein Punkt, zu dem alle Anwesenden Stellung nahmen, die Auswirkungen von Hartz IV, vor allem die Perspektiven von Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt chancenlos sind, der Zweite.

Menschenjagd im Mittelmeer?
Das autobiographische Buch des Eritreers Zekarias Kebraeb, „Hoffnung im Herzen, Freiheit im Sinn“ nahm Mörtter als Aufhänger, um die Kandidaten zu Stellungnahmen zur europäischen Asylpolitik zu bitten. Kebraeb schildert in seinem Buch seine mehrjährige Flucht aus Eritrea. Seenot in Nussschalen im Mittelmeer, Kapitäne, die mit geretteten Flüchtlingen an Bord keine Häfen anlaufen dürfen, Reedereien, die ihren Kapitänen die Aufnahme von Flüchtlingen verbieten – „Ist das bewusster Totschlag?“ provozierte Mörtter.

"Arbeit, Brot, ein gutes Leben"
Die Antworten bewegten sich im erwartbaren Rahmen: „Wir müssen unterscheiden zwischen dem Grundrecht auf politisches Asyl, und Versuchen, aus nachvollziehbaren Gründen sein Glück woanders zu versuchen“, betonte Stein und appellierte, Italien und Griechenland, wo viele Flüchtlinge zuerst stranden, nicht alleine zu lassen. Auf die Abgrenzung zwischen politischen und Wirtschaftsflüchtlingen legte auch Hirte, Universitätsprofessor einziger Nicht-Hauptberufspolitiker der Runde, Wert. „Sie suchen, was ich jedem wünsche – Arbeit, Brot, ein gutes Leben. Es sind durchaus Menschen, die hier arbeiten können und sollten, und die wir auch gebrauchen können“, schloss Hirte sein Statement.

Abschaffung des Arbeitsverbots
Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis warf Beck FDP und CDU vor: „Auf hoher See kommt es nicht darauf an, ob jemand politischer Flüchtling ist“. Beck und Birkwald waren sich einig in ihrer Ablehnung der „Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ (Frontex), die illegale Einwanderung verhindern soll. Beck forderte differenziertere Kriterien. Die Türkei, so Beck, sei sicher nicht „für einen homosexuellen Flüchtling aus dem Iran geeignet, für andere Flüchtlinge dagegen schon." Birkwald forderte zudem die Abschaffung des Arbeitsverbots für Asylbewerber, Scho-Antwerpes eine bessere Kontrolle von Frontex. Auch die Abschaffung von Sammellagern für Asylbewerber gehörten zu Birkwalds Forderungskatalog.

Hartz IV – staatlich organisierte Armut?
Rund um Hartz IV – neun Jahre nach der Reform – drehte sich der zweite große Themenkomplex des Abends. „Vollbeschäftigung“, dieses Ziel der Arbeitsministerin Ursula von der Leyen stieß bei Mörtter auf heftige Kritik: 4,45 Millionen Menschen beziehen 2013 im Durchschnitt in Deutschland ALG II oder „Hartz IV“. „Rund 1,8 Millionen“, so Mörtter, hätten auf dem ersten Arbeitsmarkt ohnehin keine Chance.

Existenzminimum reicht nicht aus
Stein betonte die 1,5 Millionen neuer Jobs, die die Wirtschaft geschaffen habe, räumte aber ein, dass es sich dabei teilweise um befristete Stellen handle. Hirte wand ein, dass das Existenzminimum oft nicht ausreiche. Bei Suchtproblemen oder damit verbundene Strafzahlungen, die vom Existenzminimum abgezogen werden, müsse ebenfalls über neue Regelungen nachgedacht werden. „Ich kenne Studenten, die von weniger als Hartz IV leben“, sagte Hirte jedoch. Beck forderte eine Erhöhung des Existenzminimums von 382 auf 420 Euro, verwies jedoch auch darauf, dass die frühere Sozialhilfe geringer ausfiel. Beck verlangte außerdem einen Mindestlohn und eine Überarbeitung der Kriterien für das Existenzminimum. Scho-Antwerpes stimmte Beck überwiegend zu, wünschte sich aber vor allem eine „passgenaue Unterstützung für alle, die Arbeit suchen und brauchen“.

"Armut per Gesetz?"
„Ohne Hartz IV gäbe es die Linke nicht“, leitete Birkwald sein Statement ein. Hartz IV sei „Armut per Gesetz“ für die 1,8 Millionen Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben. Hierbei erwähnte er Pläne seiner Partei für geförderte Projekte mit Mindestlohn, auch in Teilzeit, die 500.000 Personen Jobs verschaffen könnten.Die Fragen des Publikums beschäftigten sich mit der Besoldung und dem Image von Lehrern, der Finanzierung sozialer Reformen ohne Schäden für die Wirtschaft und lokalen Projekten wie dem Godorfer Hafen.

Famous last word
Einig waren sich alle Kandidaten in ihrem Appell, zur Wahl zu gehen.

„Alle die Wahlrecht haben sollen es am 22. September wahrnehmen“, appellierte Birkwald. Und hoffte auf Zweitstimmen für seine Partei.

Auf Zweitstimmen hoffte auch Beck, ebenso wie auf gut informierte Wähler, die für das kleinere Übel stimmen: „Parlamentarische Demokratie ist das Beste aller schlechten Systeme“.

Hirte, der als Direktkandidat auf den Stimmzetteln steht, möchte zeigen, „dass auch, wer 25 Jahre lang etwas anders gemacht hat, politische Zeichen setzen kann“. Gebrauch machen von seinem Wahlrecht und an den Einsatz für eine liberale, tolerante Gesellschaft, daran appellierte Hirte.

Scho-Antwerpes, die die Veranstaltung aus Termingründen früher verlassen musste, betonte den Vorrang der Menschenwürde vor wirtschaftlichen Erwägungen, eine Vermögenssteuer hielt sie für vertretbar.

Regelmäßig "Tacheles" reden
Mit dem Lob „Es ist klasse, dass sie in diese Arbeit gehen und dafür gerade stehen“, entließen Mörtter und Quaas die Kandidaten, die noch ein „Gemeinschaftsspiel“ des Künstlers Cornel Wachter und einen von demselben entworfenen Spiegel mit Fotos von Flüchtlingen in Lampedusa und einem Zitat von Heinrich Böll als Abschiedspräsent erhielten.
„Tacheles“ wird organisiert von Pfarrerin Anna Quaas und der Presbyterin und Künstlerin Alida Pisu organisiert. Am 25. September 2013 ab 20 Uhr lautet das Thema: „So werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“ – ja und?“

Text: Annette von Czarnowski
Foto(s): Annette von Czarnowski