You are currently viewing „Streitbarer Protestantismus“: Reformationsfeier 2010 in Köln

„Streitbarer Protestantismus“: Reformationsfeier 2010 in Köln

Das Thema stand schon seit langem fest, hätte aber angesichts der Proteste gegen den neuen Hauptbahnhof „Stuttgart 21“ und den Auseinandersetzungen um den Neubau oder die Sanierung des Kölner Schauspielhauses kaum aktueller gewählt werden können. „Streitbarer Protestantismus“ hieß das Motto bei der zentralen Reformationsfeier des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region in der bis auf den letzten Platz besetzten Trinitatiskirche. Philipp Melanchthon lieferte den Grundgedanken: „Wir sind einander zum wechselseitigen Gespräch geboren.“ Die Liturgie leiteten die Superintendenten Dr. Bernhard Seiger und Markus Zimmermann. Die musikalische Leitung hatte Kirchenmusikdirektor Andreas Meisner, Kantor Johannes Quack spielte die Orgel, der Kleine Chor Köln und das Consortium Sacra Musica waren verantwortlich für ein eindrucksvolles Musikprogramm. Zugleich war dieser 31. Oktober auch ein besonderes Datum der ökumenischen Kultur Kölner Kirchen: Bildete diese Reformationsfeier doch den Abschluss des ökumenischen Kulturprojekts „KunstKultur- KirchenKöln“, in dem mit zahlreichen Veranstaltungen die vielen Facetten von Kunst und Kultur in den christlichen Kirchen Kölns präsentiert wurden.

„Der Schutz des Sonntags bleibt wichtig“
Stadtsuperintendent Rolf Domning erinnerte in seiner Begrüßung an die großen Reformatoren, die ja auch „große Streiter“ gewesen seien. Die Geschichte der Reformation sei auch eine Geschichte des Streits, und Luther einen „streitbaren Protestanten zu nennen, wäre fast noch untertrieben“. Im Gegensatz zu Philipp Melanchthon, dessen Todestag sich 2010 zum 450. Mal jährt, der eher als der „Diplomat unter den Reformatoren“ gelte, unter anderem, weil er das Gespräch mit den Gegnern der Reformation fortgeführt habe: „In Kommunikation zu bleiben mit Gott und den Menschen, dabei aber das eigene Anliegen nicht aus dem Blick verlieren – der heutige Gottesdienst zum Reformationstag wäre wohl ganz im Sinne Melanchthons gewesen“, so Domning. Nicht im Sinne des Reformators wäre es wohl gewesen, dass am Reformationstag, einem Sonntag, die Geschäfte in der Kölner Innenstadt – wie auch anderswo in Deutschland – geöffnet hatten. „Der Schutz des Sonntags bleibt uns als evangelische Kirche wichtig. Dafür werden wir uns auch weiter einsetzen“, betonte der Stadtsuperintendent.


Das Beste aus der Situation machen: Auch wenn die Geschäfte in Köln am Reformations-Sonntag 2010 verkaufsoffen waren, kamen Protestantinnen und Protestanten doch um 18 Uhr – mitsamt Einkaufstüten – überaus zahlreich in den Gottesdienst der zentralen Trinitatiskirche.

„Vertrauen kann man weder verordnen noch verlangen“
Der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters forderte in seinem Grußwort angesichts der zunehmenden Bürgerproteste gegen politische Beschlüsse „Offenheit, Klarheit und Transparenz als Grundlagen der Entscheidungen“. „Viele Bürger hinterfragen die Beschlüsse. Sie sind misstrauisch, zum Beispiel wegen der vielen Ungereimtheiten beim Einsturz unseres Stadtarchivs. Der Weg, neues Vertrauen zu schaffen, wird schwierig. Vertrauen kann man nämlich weder verordnen noch verlangen“, sagte der Oberbürgermeister. Roters forderte Solidarität, Mitmenschlichkeit und soziale Gerechtigkeit in der Stadt. Vor allem Letztere biete die Chance der Teilnahme am unerlässlichen sozialen Miteinander. Der Oberbürgermeister hoffte, dass vom Reformationstag der Appell ausgehe, die soziale Gerechtigkeit als äußerst wichtige Aufgabe wahrzunehmen.

Beispiele Kölner Streitkultur
Eine Besonderheit der Reformationsfeier 2010 war die eigens vom Studio ECK, dem Hörfunkstudio evangelischer Christinnen und Christen von Köln und Umgebung, für diesen Anlass produzierte Bild-Ton-Collage, die die Reformationsgemeinde in der Trinitatiskirche exklusiv sehen und hören konnte. Darin stellte Helga Blümel, Geschäftsführerin des Diakonisches Werkes Köln und Region, den Protest der älteren Menschen gegen den möglichen Abbau der Seniorennetzwerke in der Stadt als bestes Beispiel auch protestantischer Streitkultur vor. Unter dem Motto „Lasst uns nicht im Regen stehen“ hatten die Senioren in diesem Sommer gegen den Abbau städtischer Fördergelder demonstriert. Helmut Feld, Sprecher des Umweltforums Kölner Süden, beschrieb den Kampf der (abgelehnten) Bürgerinitiative für ein Bürgerbegehren gegen den Ausbau des Godorfer Hafens, und Karl-Heinz Pütz vom Kölner Runden Tisch für Integration erinnerte an die Proteste gegen proKöln und proNRW, als deren Vertreter zum sogenannten „Islam-Kongress“ nach Köln eingeladen hätten. „Die hatten sich auf dem Schiff ,Moby Dick‘ getroffen, konnten dann aber in Köln wegen der zahlreichen Demonstranten nicht anlanden. Sogar der Kapitän hat sich geweigert anzuhalten.“ Die Collage des Studio ECK stellte damit eindrücklich Beispiele Kölner Streitkultur des vergangenen Jahres – durchaus auch bewusst von evangelischer Seite mitgetragen -, kurz umrissen, vor.


Johanna Haberer, Professorin für Christliche Publizistik an der Universität Erlangen-Nürnberg, als Predigerin in der Kölner Trinitatiskirche

Die Reformation als „Muster einer neuen Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung“
Die Predigt bei der Reformationsfeier mit dem Titel „protestantische Streitkultur“ hielt Johanna Haberer, Professorin für Christliche Publizistik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie erinnerte an Luthers 95 Thesen. „Blitzschnell wurden die Druckmaschinen im ganzen Land angeworfen, um den Generalangriff des Wittenberger Theologen auf den Ablass, das heilige Sparschwein der römischen Kirche, einer möglichst breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen.“ Was damals noch keiner geahnt habe: „Die Reformation wurde zu einem gigantischen Medienereignis, sie wurde zu einer Art Muster einer neuen Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.“ Damals sei mit der für jeden und jede verständlichen Bibelübersetzung und den zahllosen Streitschriften eine Kultur der öffentlichen Auseinandersetzung entstanden, die die bisherigen Muster öffentlicher Kommunikation vom Kopf auf die Füße stellte. Erstmals konnten sich alle am öffentlichen Streit beteiligen. Die Menschen begannen, leidenschaftlich zu lesen und zu debattieren. Dazu kam die Sprache der Symbole. Luthers öffentliche Verbrennung der päpstlichen Bannandrohungs-Bulle hätte ganz Europa elektrisiert. Der Papst hatte seine Macht über die Gerechtfertigten verloren.

„Aufgerufen, sich mit Argumenten einzumischen“
„Aber es gibt einen tief greifenden Unterschied zwischen der Medienrevolution damals und heute: Während wir heute die Beliebigkeit der öffentlich geäußerten Meinung bedenken und den Austausch milliardenhafte Banalitäten beklagen, war es in der Reformation ein Grundgedanke, der die Druckmschinen in Bewegung brachte, nicht umgekehrt, und die Menschen dazu. Nicht die Druckmedien waren der Motor für die Reformation, sondern ein grundlegend befreiender, neuer Gedanke!“, so die Professorin. Die Erkenntnis, dass der Christenmensch frei von Angst und frei für die Welt sei, habe ungeheure Energien freigesetzt. Ab sofort seien jeder und jede verantwortlich gewesen für den eigenen Glauben, die eigene Bildung und die eigenen Überzeugungen, und auch aufgerufen, sich mit Argumenten einzumischen in gesellschaftliche Auseinandersetzungen. „Der Streit gehört organisch zum Zusammenleben gleicher und freier Menschen“, sagte Johanna Haberer in der Trinitatiskirche. Es gehe um den fairen Prozess der Meinungsbildung, und es gehe darum, transparent zu kommunizieren. Und es gehe um eine bestimmte christliche Haltung im Diskurs: „Richtet nicht, damit Ihr nicht gerichtet werdet“, heiße es in der Bergpredigt. „Es geht darum, den Splitter im Auge des anderen zu erkennen, aber auch den Balken im eigenen“, erklärte die Publizistik-Professorin und fuhr fort: „Eine reformatorische Streitkultur nimmt die Menschen mit, versteht sie als Gottes Geschöpfe, bildbar, verführbar zum Argument, zu fairen Prozessen und in der Lage, ohne Gesichtsverlust als Unterlegener vom Spielfeld zu gehen.“

Die Predigt
von Professorin Johanna Haberer zum Nachlesen und Ausdrucken (pdf-Dokument) gibt es hier.

Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Rahmann