Pfarrer Bernhard Seiger, Stadtsuperintendent des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region, blickt zurück auf die Ostertage und die Zeit der Corona-Krise:
Seit Anfang März breitet sich das Corona-Virus in Europa, in Deutschland und in Köln rasant aus. Zum 15. März wurde die Versammlungsfreiheit so umfassend eingeschränkt, so dass seitdem keine öffentlichen Präsenz-Gottesdienste in den Gemeinden aller Konfessionen mehr stattfinden könnten, auch Synagogengottesdienste und öffentliche Gebete in Moscheen sind untersagt. Die massive Gesundheitsgefahr und die drohende Überlastung des Gesundheitssystems haben zu den gut begründeten Freiheitsbeschränkungen, die in Deutschland bisher ohne Vergleich sind, geführt. Das Arbeitsleben und das soziale Leben haben sich durch die Kontaktbeschränkungen tiefgreifend geändert. Vor allem schmerzt das Kontaktverbot aus Fürsorgegründen gegenüber Angehörigen von Risikogruppen, insbesondere Senioren. Hier werden die emotionalen Widersprüche besonders augenfällig: Nähe verweigern um der Liebe willen. Auch die christliche Gemeinschaft und die Kraft ihrer Feiern werden gegenwärtig auf eine harte Probe gestellt. Wir hoffen, dass Gottesdienste und gemeindliche Zusammenkünfte unter Beachtung von Schutzvorschriften und mit Einschränkungen in Bälde wieder möglich sind.
Manche fragen, manche zunehmend drängend: Wie lange noch? Wie lange noch die Beschränkungen? Wie sollen wir einerseits verantwortlich umgehen mit den Kurven von Infizierten und Todesfällen, bei uns und in Nachbarländern und in den ärmsten Ländern, z.B. in Afrika? Was machen andererseits die Isolation, die Ungewissheit über die weiteren Maßnahmen und die massiven wirtschaftlichen Folgen mit uns und dem sozialen Zusammenhalt? Welche Folgen hat die Krise für uns als Individuen, als Gesellschaft und als Kirche? Es sind verschiedene Kämpfe, die gleichzeitig geführt werden: gegen das Virus und seine unkontrollierte Ausbreitung, gegen die Angst und gegen die ökonomischen und sozialen Folgen.
Wenn unsere Welt aus den Fugen gerät
Wir alle leben mit einem Maß an Gewohnheit und Ritualen, die uns Halt geben. Wie ein Trauerfall im nahen Umfeld dazu führt, dass unsere innere Ordnung aus den Fugen gerät, so führt die Tiefe Veränderung des Alltags, der erzwungene Abstand von vertrauten Menschen und das Aufgeben oder Unterbrechen vertrauter Kulturtechniken zu einem deutlichen Krisenempfinden. Der Lebensrhythmus ungezählter Menschen gerät aus den Fugen. Das Osterfest 2020 ist mit viel Kreativität in den Gemeinden und Familien gefeiert worden. Es gab eindrückliche Onlinegottesdienste und Fernsehgottesdienste, die unter die Haut gingen. Aber die leeren Kirchen und eine durchaus skurrile Stimmung über die Ostertage sind ein beredtes Zeugnis dieser Krise. Die Situation lässt sich nicht so einfach einordnen.
Wie gelingt das Verstehen bei anderen Katastrophen? Bei einem Amoklauf oder einem Terroranschlag gibt es einen oder mehrere Täter. Es ist schrecklich, welche Gewalt möglich ist, aber Menschen sehen, was passiert, sie nehmen meist medial vermittelt wahr, wo es geschieht und können Ursache und Wirkung zusammendenken. Bei Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder Waldbränden erschrecken wir über die Dimensionen und das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Aber wir verstehen die Zusammenhänge, weil es vergleichbare Ereignisse, Vorsichts- und konkrete Hilfsmaßnahmen gibt. Epidemien sind anders. Sie lösen Urängste aus. Sie sind unsichtbar, unheimlich, unrein. Nicht umsonst werden Parallelen zu Pestzeiten im Mittelalter und zu Infektionsepidemien des 19. und 20. Jahrhunderts hergestellt. Wir wissen durch virologische Forschung und transparente Berichterstattung heute weltweit mehr als zu jeder anderen Epoche über die Gefahren und Verbreitungswege des aktuellen Virus, von Covid 19, und wir sind eine aufgeklärte, gut informierte Gesellschaft, die verantwortungsvoll und flexibel agieren kann. Und trotzdem bleibt die Angst, weil die Gefahr nicht so greifbar ist und die Lösungen zur medizinischen Beherrschbarkeit der Pandemie in weiter Ferne liegen. Sichtbare Zeichen der Krise sind leere Straßen, geschlossene Restaurants, Cafés, Spielplätze und Geschäfte und immer mehr Mundschutzträger.
Wir spüren anders als zu anderen Zeiten, wie verwundbar wir sind. Soziale Kontakte helfen uns in der Regel, mit Unbekanntem umzugehen, aber gerade diese unterliegen gegenwärtig tiefgreifenden Wandlungen. Mit wem treffe ich mich noch, was ist verantwortbar, wen bringe ich in Gefahr? Das Spektrum reicht von Beklommenheit und Schamgefühl mit und ohne Maske bis zur erfreulichen Intensität bei Telefongesprächen und der Renaissance des Briefeschreibens.
Und unser Glaube?
Die Kirchen haben sich Mitte März sofort und plausibel den behördlichen Anweisungen zum Verbot von Präsenz-Gottesdiensten unterworfen, weil sie die politischen Entscheidungen nachvollziehen konnten und ihre Vorbildrolle sehen. In der Tat geht es darum, dass nicht religiöse Treffen zum Herd weiterer Virusausbreitung werden. Die Botschaft der Kirchen war: Absagen von Gottesdiensten und Konzerten und soziale Distanz sind ein Ausdruck der Nächstenliebe und der Rücksichtnahme. Dem Gesundheitswesen sollte Zeit gegeben werden, um Kapazitäten auszubauen, um genug Corona-Behandlungen zu ermöglichen und Schwache zu schützen. So war der Tenor aller kirchlichen Stellungnahmen.
Aber es gilt nun im Bereich der Kirchen auch darauf zu sehen – wie in allen wirtschaftlich und sozial tätigen Branchen -, welcher immenser Schaden, auch dauerhafter Schaden, durch das Runterfahren des öffentlichen Lebens geschehen kann. Es gibt seit über zwei Monaten viel kirchliche Kreativität und Experimentierfreude, wie Gottesdienste „anders“ gefeiert werden können. Es gibt auch Ideenreichtum, wie Angebote für Kinder, Jugendliche und Senioren angemessen neu entwickelt und kommuniziert werden können. Aber all diese neuen Wege haben Grenzen.
Glauben ohne Gemeinschaftserlebnisse?
Es fällt auf, dass der Erlebnischarakter von Gottesdiensten, Gesprächen und Seelsorge von den Beschränkungen zutiefst betroffen ist. Es drängt sich die Frage auf: Was ist die Kirche ohne Gemeinschaft? Eine durchaus spannende Frage! Nach unseren Glaubensgewohnheiten sind ein behütetes Leben, das das Wort Segen verdient, sind die Beziehung zu Gott, die Suche nach Gott ohne Gottesdienst und das Gespräch mit anderen nur schwer möglich. Wir vertreten mit guten Gründen: Alleine glauben – das geht kaum. Wir gehen davon aus, dass die Gemeinschaft für den christlichen Glauben konstitutiv ist. Jesus sagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen.“(Matthäusevangelium 18, Vers 20) Korrekt, man mag einwenden: Das gilt auch bei einer Videoandacht und einem Fernsehgottesdienst. Das gilt solange die Videoandacht anknüpft an verbindliche analoge Erlebnisse in der Vergangenheit. Doch diese würden bald erkalten, wenn es bei online-Formaten als einzigen Formaten bliebe. Biblisch gilt: Die Jünger sind immer als Gruppe gedacht, und Jesus schickt sie zumindest zu zweit los, also nie alleine. Das hat Gründe. Die Präsenz Gottes wird eben mit allen Sinnen erfahren und oft vermittelt über Weggefährten und als Erlebnis in einer suchenden und feiernden Gruppe. Musik, Lied, Gebet, Hören, Abendmahl und selbst die Stille sind in Gemeinschaft anders als beim Alleinsein. Jeder spürt das. Die Rückmeldungen zahlreicher Menschen nach der Online-Karwoche und dem Online-Ostern zeigen das.
Im Gottesdienst sitzen Menschen in ganz verschiedenen Lebenslagen beieinander, einzeln und gemeinsam vor Gott. Gemeinsam hören, singen und beten füllt den Raum und befördert die Entwicklung des Einzelnen, der Gemeinschaft des Lebens. Das gibt es nicht online. Ebenso wenig wie es einen Online-Kindergarten gibt, der ein gesundes Hineinwachsen in das Leben als Mensch ermöglichen könnte. Also warten wir sehnlichst auf das Öffnen der Beschränkungen, darauf, dass wir wieder feiern können, sparsame oder festliche Gottesdienste, Taufen, Konfirmationen und Trauungen feiern können! Und darauf, dass wir wieder gemeinsam in der Kirche und auf dem Friedhof trauern können. Wir treten dafür in ökumenischer und interreligiöser Gemeinschaft ein! Es geht jetzt im politischen und ethischen Abwägen der Risiken auch verstärkt wieder um Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Freiheit der Religionsausübung. In unseren Gotteshäusern sind physische Abstandsregeln leichter einzuhalten als an vielen anderen Orten.
Weisheit klösterlichen Lebens
Die Krise stellt auch die Frage an uns: Wie findet die Begegnung mit Gott statt, wenn wir allein sind? Nicht umsonst werden in etlichen Magazinen und Zeitschriften nun Nonnen und Mönche zu ihrem Leben befragt, das ja zum großen Teil aus Selbstisolation besteht. Ihre Lebenserfahrungen werden zitiert, weil sie im Alleinsein und regulierter Gemeinschaft und Disziplin leben und damit gut zurecht kommen. Sie erzählen von ihrem reichen inneren Leben im Alleinsein. Das ist ein Stück Lebenskunst, wie jeder Mensch aufgrund der Rahmenbedingungen seines Lebens Lebenskunst lernt, oft im Lauf des Lebens in seinen Wandlungen mehrfach, auf je andere Weise. Martin Luther hat als junger Mann im Augustiner-Eremitenkloster gelebt und dabei für sich nach dem richtigen Weg gerungen und schließlich Klarheit gewonnen. Er hat nach Klarheit in seiner Beziehung zu Gott gesucht, ohne den er nicht sein will und kann. Sein Weg ist im Einzelfall eine Chance in der Krise gewesen, aber für die meisten Menschen natürlich keine gangbare Option.
Mit Bonhoeffer Wege bereiten und finden
Wie intensiv sprechen in diesen Tagen Worte Dietrich Bonhoeffers (1906 -1945) zu uns, an dessen 75. Todestag wir uns am 9. April erinnert haben! Seine reifsten Texte hat er nach seinen dichten theologischen Studien zu Nachfolge, Ethik, Kirche, christlicher Gemeinschaft in der Haft und im Alleinsein gefunden und niedergeschrieben: „Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft 1943-1945“. Dort sind die prägnanten Gedichte „Von guten Mächten“, „Christen und Heiden“, „Wer bin ich?“, Gebete und intensive Briefe an Freunde und an seine Braut entstanden. In der Unmittelbarkeit der Eindrücke und Gefühle, im Konfrontiert-Sein mit uns selbst fängt die Begegnung mit Gott neu an. Glauben ist kein Besitz, sondern ein Empfangen. Der Glaube ist ein Vertrauen darauf, dass mit unseren ethisch motivierten Schutzmaßnahmen und unseren mentalen Bewältigungsstrategien nicht alles getan ist. Wir nehmen Ohnmacht wahr und ahnen, dass es Dimensionen gibt, mit denen wir nicht allein klar kommen, sondern mit denen nur Gott fertig werden kann. Die Verbindung zu Gott ist nicht verfügbar, sondern eine Beziehung, die täglich neu werden kann und muss, damit sie lebendig ist.
Können wir das: In der Krise, im Verzicht auf gewohnte Gottesdienste geistlich leben? Nichts ist selbstverständlich. Glaube kann auch in Gefahr geraten zu diffundieren oder zu zerbröseln, wenn er keine Nahrung bekommt oder die Gemeinschaft verloren geht. Nichts ist selbstverständlich: die tragende Gemeinschaft nicht, der Glaube der Christengemeinschaft nicht, sondern wir sind geworfen auf den, der vor allem war und nach uns sein wird. Das macht uns zu solchen Menschen, die verwundbar, berührbar, bedürftig, hörend, liebenswert sind: Kinder Gottes. Der Gottesdienst erinnert daran und macht erfahrbar: Die Wirklichkeit, die wir erleben, ist immer der Raum des Vorletzten, so schreibt Bonhoeffer in seinem Fragment der Ethik. Das Letzte, was bleiben wird, sind die Gnade Gottes und die Wirklichkeit im Lichte Christi. Der gemeinsam gefeierte Gottesdienst erinnert genau daran und rückt die Zukunft der Menschen in das Licht der Hoffnung.
Dietrich Bonhoeffer schrieb 1942 in der Zeit des Widerstandes folgende Worte für sich selbst zur Ermutigung – eine Geschenk zur Stärkung auch für uns in unsicherer Zeit:
„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandkraft geben will,
wie wir brauchen.
Aber er gibt sie nicht im voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.
In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.
Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind,
und dass es Gott nicht schwerer ist mit ihnen fertig zu werden
als mit unseren vermeintlichen Guttaten.
Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist,
sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“
Foto(s): Seiger