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Soziale Kürzungen? Kirche muss Aufklärung betreiben!

Pfarrer Uwe Becker, Leiter des Sozialwerks im Evangelischen Stadtkirchenverband Köln und Dr. Thomas Münch, Leiter des Kölner Arbeitslosenzentrums KALZ e.V. und Vorsitzender des Sozialethischen Ausschusses im Evangelischen Stadtkirchenverband Köln, äußerten sich Ende letzten Jahres im WEG zu den geplanten und bereits realisierten Kürzungen in Bund, Land und Kommune und deren Auswirkungen auf die Kirche und kirchliche Einrichtungen. Da es nicht so aussieht, als würde dies im Neuen Jahr besser – aus traurigem, aktuellen Anlass an dieser Stelle der Text noch einmal.

Kürzungen schmerzen durch ihre Kompaktheit gleichzeitig in Stadt, Land, Bund und Kirche
„Die Wucht der Einsparungen, die wir gegenwärtig hautnah erleben, ist gewaltig“, beschreibt Uwe Becker die bereits umgesetzten wie geplanten Haushaltskürzungen und Reformen in Bund, Land und Kommune. Die Auswirkungen seien enorm. Insbesondere seien diverse sozial-diakonische Einrichtungen in ihrer Existenz bedroht. Selbstverständlich auch solche in evangelischer Trägerschaft. Etwa die offene Kinder- und Jugendarbeit, bezieht sich Becker auf den Landesjugendplan 2003/2004. Bis 2005 seien in diesem Bereich Kürzungen in Höhe von 61 Prozent vorgesehen. Das treibe den Eigenanteil für Träger von Jugendhäusern in nicht zu bewältigende Höhen. Viele der sozialen, kirchlichen Angebote werden vom Land weniger, andere gar nicht mehr bezuschusst. „Dabei sind die Kürzungen nicht nur einseitig. Sie treffen und schmerzen durch die Kompaktheit der Einsparungen in Stadt, Land, Bund und Kirche“, stellt Becker fest. Damit würde generell das bewährte Modell der Ko-Finanzierung in Frage gestellt und gewachsene Strukturen stünden vor der Auflösung.

„Zu all diesen Problemen kommt hinzu, dass der Kirche für ihre Arbeit immer weniger Mittel zur Verfügung stehen“, verweist Becker aus das geringere Steueraufkommen infolge, unter anderem, der strukturellen Arbeitslosigkeit. „Mit der Steuerreform trifft es uns noch mehr. Zumindest aber sind uns fünf Prozent für die nächsten drei Jahre garantiert.“

Wenn einer ausfällt, springt niemand in die Bresche
Dies alles wäre weniger problematisch, wenn andere Anbieter sagen würden und sagen könnten, „wir übernehmen die gefährdeten Arbeitsbereiche“. Aber es springe eben niemand in die Bresche. „Wenn die freiwilligen Leistungen des Landes ausbleiben, bedeutet das eine ersatzlose Aufgabe der Förderung.“ Für die einzelne Gemeinde stelle sich also die Frage, ob sie Gemeindediakonie, etwa ambulante Pflege oder offene Jugendarbeit, überhaupt noch leisten könne. „Da bricht eine ganze Landschaft auseinander“, befürchtet Becker.

Was bleibt von einer Gemeinde, wenn sie sich aus der sozialen Arbeit zurück ziehen muß?
„Was sind denn Gemeinden, wenn sie sich aus der sozialen Arbeit zurück ziehen, zurück ziehen müssen?“ Dies bedeute unweigerlich einen Substanzverlust. Auch von der reformierten Arbeitsmarktpolitik seien kirchlichen Projekte hart betroffen, nennt Becker etwa das Beschäftigungs- und Altenhilfe-Projekt Lindenthaler Dienste. Der ökumenisch getragene, gemeinnützige Verein müsse aufgrund der im nächsten Jahr erheblich reduzierten Bezuschussung von ABM-Stellen 2004 aufgeben. Dieser schon seit Jahren zu verfolgende schleichende Rückgang von Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem 2. Arbeitsmarkt sei symptomatisch.

Massiver Abbau sozialer Strukturen und Leistungen
An der Arbeitsmarktpolitik könne man paradigmatisch erkennen, wie die rot-grüne Bundesregierung den Sozialstaat abbaue. Dabei, so Dr. Thomas Münch, Leiter des Kölner Arbeitslosenzentrums KALZ, mache sich auf Regierungsseite Zynismus breit und eine Tendenz zur Verharmlosung sei zu erkennen. Etwa, wenn das NRW-Finanzministerium Reformen ernsthaft mit dem Slogan „Harte Einschnitte schaffen Perspektiven“ kommentiere. „Die Lebensbedingungen für die Trägerseite und auch Arbeitslosen werden sich dramatisch verschlechtern“, warnt Münch. So sinke beispielsweise im Kontext von Hartz IV das nach einem Jahr Arbeitslosigkeit gezahlte Arbeitslosengeld auf das Niveau der Sozialhilfe. Dies bezeichne die Regierung dann als „Grundsicherung“, als modernistische Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, ist Münch ob der „staatstragenden Rhetorik“ verwundert. „Nein“, so Münch, „hier findet schlicht ein massiver Abbau statt. Soziale Strukturen werden zerschlagen, die Armutsquote wird steigen. Daher ist es um so wichtiger klarzustellen, dass wir das so nicht wollen.“

Die Kirche muss ihre Stimme erheben, muss aufklären
„Die Herausforderung, dass Kirche ihre Stimme erhebt, war selten so groß“, stimmt Becker zu. „Dabei müssen wir aber darauf achten, dass wir nicht in eine Glaubwürdigkeitskrise geraten.“ Zumal Akzeptanz- und Vermittlungsprobleme drohen würden, etwa wenn es um Entlassungen von Mitarbeitenden gehe. „Wir, die Kirche, sind enorm gefordert, die Klage über die eigene schlechte Situation aufzugeben und im Anblick der Gegebenheiten uns einzumischen und Perspektiven aufzuzeigen“, fordert Becker. „Wir sind sehr wohl in der Lage zu sagen, was wir für unabdingbar halten und was nicht.“ „Wir müssen aufklären, und zwar mit Weitblick“, kritisiert Becker, dass noch zu wenig die Auswirkungen der Reformen und Haushaltskonsolidierungen in ihrer Gesamtheit dargestellt würden. „Wir dürfen nicht nur einen Teilblick haben, nicht einzelne Themen herausbrechen.“ Vernetzung sei notwendig. Information beispielsweise darüber, welche konkreten Folgen die Kürzungsproblematik für das lokale Umfeld, unsere Stadt und Stadtteile haben. „Indem wir uns als Kirche mit der Thematisierung einbringen, zeigen wir uns am Gemeinwohl interessiert.“

Planungs- und Gestaltungshoheit reklamiert Becker ebenso für die Kirche und die Gemeinden. „Generell müssen wir auch in der Kirche schauen und analysieren, was ist von der Politik verheißen, was wird in Aussicht gestellt, was sagen die Experten, was sagt die Erfahrung“, meint Becker. Daraus müssten Schlüsse gezogen und entsprechend gehandelt, sprich gestaltet, werden. „Kirche ist gehalten, an ein Stück ihrer Tradition anzuknüpfen. Nämlich, Aufklärung zu betreiben.“

Text: Engelbert Broich für den WEG
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