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„Sind Kirchen systemrelevant?“ – Ein kritischer Blick von Prof. Ulrich Körtner

In den vergangenen Wochen war ein Wort wichtig, das vor der Corona-Pandemie eher selten im allgemeinen Sprachgebrauch zu hören war: „Systemrelevant“. Dabei ging es meist um systemrelevante Berufe: Es gab Diskussionen, wie im Hinblick auf die Systemrelevanz einzelner Betätigungsfelder mit den Einschränkungen umzugehen sei, wie gerecht die Bezahlung systemrelevanter Berufe, zum Beispiel im Bereich der Krankenpflege, ist. Von einer Systemrelevanz der Kirchen war weniger häufig die Rede.

Dieser Frage allerdings nahm sich, auf Einladung der Kölner Melanchthon-Akademie und der Evangelischen Akademie im Rheinland, Professor Dr. DDr h.c. Ulrich Körtner an. Er ist seit 1992 Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Der Online-Vortrag „Sind Kirchen systemrelevant?“ mit anschließender Gesprächsrunde war Teil der Reihe „Was wir zu sagen haben“ die, organisiert durch die beiden Akademien, regelmäßig stattfindet.

Der Theologe stellte gleich zu Beginn klar, dass das Wort „Systemrelevanz“ sich in der aktuellen Krise zu dem Wertmaßstab überhaupt entwickelt hat und warf einen kritischen Blick auf die öffentliche Wahrnehmung von Kirche in dieser Hinsicht. In den vergangenen Monaten wurde aus seiner Sicht klar, dass der Mensch Kultur braucht, er braucht Lebensmittel, auch Pflege. „Aber“, so gab Professor Ulrich Körtner zu bedenken: „es stellte sich kaum die Frage: Braucht er auch Religion? Und braucht der Mensch, falls er religiöse Bedürfnisse hat, dafür unbedingt die Kirchen?“ Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, selbst Pfarrerstochter, habe im März bei einer Rede im Fernsehen kein Wort zu Kirche, Diakonie oder Caritas im Hinblick auf den Lockdown verloren, gab der Theologe zu bedenken.

Pfarrerinnen und Pfarrer, die ihren Dienst trotz aller Einschränkungen gewissenhaft versahen und kreative Idee entwickelten, um Kontakt zu den Gemeinden zu halten, seien nicht beklatscht worden. Dazu kämen schrumpfende Mitgliederzahlen und damit einhergehend weniger finanzielle Mittel. Doch natürlich ist Kirche systemrelevant, betonte der Theologe und erläuterte: „Die kirchliche Diakonie als Teil des Sozialstaates und des Gesundheitswesens ist nach wie vor ungemein wichtig, wenn man nur an Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen in kirchlicher beziehungsweise diakonischer Trägerschaft denkt.“ Allerdings, so führte er weiter aus, gelte das anscheinend nicht für die Kirchen selbst – sie scheinen sich zu „Hintergrundorganisationen“ zu entwickeln. Die Corona-Krise wird so zum „Stresstest der öffentlichen Theologie“, der die Angst vor der zunehmenden Bedeutungslosigkeit anzumerken ist. Doch dies relativierte Prof. Ulrich Körtner und verwies auf Beraterstäbe und Ethikkommissionen, in denen Theologinnen und Theologen vertreten sind.

Es gab zahlreiche Theologinnen und Theologen, die sich in der Corona-Krise durchaus auch zu Wort meldeten und Artikel veröffentlichten. Durchaus ironisch bezeichnete Dr. Ulrich Körtner diese öffentlichen Statements als „Corona-Theologie“, die aber keine neuen Facetten aufzeige. So wurde gefordert, Orientierung zu geben, Verantwortungsträger nicht allein zu lassen. Digitale Gottesdienstangebote erreichten zwar – sogar sehr erfolgreich – die Menschen, die sich der Kirche zugehörig fühlten. Ansonsten aber, so Körtner „waren die Reaktionen in Politik und Medien waren praktisch gleich null.“

Eine „glaubensarme Zeit“ nennt der Theologe das bedauernd, um gleich darauf Hoffnung zu machen, indem er Wolfgang Huber, ehemaliger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, zitiert. „Die Kirche, das Evangelium sind nicht systemrelevant, sondern existenzrelevant. Das haben wir deutlich zu machen“, forderte dieser. Und Prof.Ulrich Körtner ergänzt: „Im Verlust an Systemrelevanz liegt für Kirche und Theologie die Chance, aus der babylonischen Gefangenschaft einer auf reine Diesseitigkeit reduzierten Moralanstalt befreit zu werden. Wenn ich recht sehe, stehen die Kirchen in der gegenwärtigen Lage vor der Herausforderung, eine neue Theologie der Diaspora zu entwickeln.“ Eine Existenz der Kirche in der Diaspora könnte sich mit dem Begriff „Fremdheit“ erklären lassen. Die Kirche existiert zwar in der Welt, ist aber nicht von dieser Welt. „Sie hat aber zugleich in Erinnerung zu rufen, dass die Hoffnung auf die Vollendung der Erlösung, die über das irdische Leben hinausreicht, nicht von der Aufgabe entbindet, im Hier und Jetzt der Stadt Bestes zu suchen“, ist der Theologe überzeugt. Das bedeute auch „sich kritisch-konstruktiv auf die Gesellschaft einzulassen und Kirche für die Menschen in ihren gegenwärtigen Nöten und Erfahrungen zu sein.“  So könnte Kirche systemisch wichtig werden, indem sie sich, wie der Ulrich Körtner anregt, in die Welt einmischt und das Evangelium von der Liebe Gottes in Wort und Tat bezeugt.

Am Montag, 5. Oktober, findet eine weitere Veranstaltung der Reihe „Was wir zu sagen haben“ unter dem Thema „Haben wir die Welt noch im Griff?“ statt. Sie wird ebenfalls von der Melanchthon-Akademie in Köln und der Evangelischen Akademie im Rheinland angeboten. Weitere Informationen unter www.melanchthon-akademie.de

Text: Katja Pohl
Foto(s): privat