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Schulpolitischer Aschermittwoch mit Botho Priebe

Zuhören, nachdenken, sich inspirieren lassen und austauschen – dazu Fisch und Kölsch als leibliche Stärkung. Das sind die wesentlichen Aspekte und Inhalte des „Schulpolitischen Aschermittwochs“, zu dem der Evangelische Kirchenverband Köln und Region traditionell zum Beginn der Fastenzeit einlädt. Die Organisation der Veranstaltung im Haus der Evangelischen Kirche in der Kartäusergasse liegt, ebenso traditionell, in den Händen des Schulreferates und Pfarramtes für Berufskollegs. In diesem Jahr übernahm Schulreferent Dr. Rainer Lemaire die maßgebliche Vorbereitung. Dafür dankte ihm Stadtsuperintendent Rolf Domning in seiner Begrüßung der knapp 100 Leiterinnen und -leiter aller Schulformen, Lehrkräfte sowie der Vertreter der Bezirksregierung, der Schulämter und der Evangelischen Kirche im Rheinland ausdrücklich.

Bildungsziel muss sich am Mensch orientieren
Die Anwesenden erwartete ein Referat von Botho Priebe. Der ausgewiesene Kenner schulischer Bildungspraxis widmete sich dem Thema „Bildungsreformen mit menschlichem Maß – was wir gewinnen und was wir verlieren können“. Darauf bezogen, stellte Domning einige Gedanken voran. „Ich bin schon bei der Überschrift hängen geblieben, beim menschlichen Maß“, gestand der Stadtsuperintendent. „Bildung mit menschlichem Maß, das soll ja positiv klingen. Da steht der Mensch im Mittelpunkt. An ihm, am Individuum, hat sich jedes Bildungsziel zu orientieren, an seiner Würde, an seiner Verfasstheit als Geschöpf Gottes. So kann man das verstehen.“ Allerdings sei ihm beim Lesen der Überschrift auch der „gute alte“ Protagoras (griechischer Philosoph, 490-411 v. Chr.) mit seiner Feststellung „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ in den Sinn gekommen. „Das kann man so oder so verstehen. Der Mensch steht im Mittelpunkt, an ihm hat sich alles auszurichten, eben auch unsere Bildungsbemühungen.“ Man könne den Satz aber auch anders interpretieren: als Ausdruck eines Relativismus‘, der alle „ewigen“ Maßstäbe leugne.

„Mensch gibt sich ein anderes Maß“
„Der Mensch setzt sich demnach selbst seine Maßstäbe, er entscheidet über Gut und Böse, sinnvoll und sinnlos, brauchbar und unbrauchbar. Wir alle wissen, dass es Phasen in der Menschheitsgeschichte gab und gibt, in denen das so verstanden wurde. In der sich der Mensch, manchmal sogar ein einzelner Mensch, zum Maß genommen und alles andere daran ausgerichtet hat. Und wir wissen auch, dass dabei meist nichts Gutes herausgekommen ist“, erklärte Domning. Auch und gerade in der Bildungspolitik habe man gelegentlich den Eindruck, dass nicht der Mensch im Mittelpunkt stehe und dass sich jegliche Bildung an ihm und seinem Wohlergehen zu orientieren habe. „Sondern dass der Mensch sich ein anderes Maß gibt, irgendetwas definiert, das er gerade für wichtig hält – und die Bildung sich bitteschön an diesem Maßstab zu orientieren hat.“
Die Begrüßung von Stadtsuperintendent Rolf Domning im Worlaut hier.

„Bildung, die nur noch das ökonomisch Verwertbare im Blick hat“
Domning berichtete von Gesprächen mit Eltern, die sich darum sorgten, „ihr Kind könnte in der Schule versagen – und ‚versagen‘ heißt bei manchen schon, kein Abitur zu machen oder nicht studieren zu können“. Auf vorsichtige Nachfrage erfahre man, dass dieses Kind gerade mal die Grundschule besuche. Was könne ein Kind, ein Mensch unter solchen Vorzeichen lernen, kritisierte Domning „eine Bildung, die nur noch das ökonomisch Verwertbare im Blick hat. Bei der es schon in den ersten Schuljahren unterschwellig um den späteren Berufseinstieg geht, den man möglichst geradlinig und schnell anstreben sollte.“ Und er stellte fest: „Für uns als Kirche bedeutet Bildung – und das eigentlich von alters her – mehr als nur Aus-Bildung. Es geht um den ganzen Menschen, und der benötigt eine ganzheitliche Bildung. Dazu zählt – neben vielem anderen – eben auch das Musische, das Emotionale und natürlich auch das Religiöse“.

Niemand konnte die Folgen ahnen
Lemaire drückte eingangs seine Freude aus über die erneute Zusammenarbeit des Schulreferates mit dem in Sachen Bildungspolitik und Bildungsreform bewanderten Gastreferenten. Priebe ist (Gründungs-)Direktor a. D. des Instituts für Schulische Fortbildung und Schulpsychologische Beratung in Rheinland-Pfalz. Zuvor hat er als Lehrer, Schulleiter, Schulrat und Schulverwaltungsdirektor gearbeitet. Er wirkte unter anderem im nordrhein-westfälischen Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest mit und leitete das rheinland-pfälzische Staatliche Institut für Lehrerfortbildung in Speyer. In seinem „Aschermittwoch“-Beitrag bezog er sich auf die Bildungsdenkschrift „Maße des Menschlichen“ des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands. Priebe stellte fest: „Die Beschäftigten im Bildungssystem stehen oft unter großem, maßlosem Druck.“ Sein Einstieg war angelehnt an einen „Zeit“-Artikel des Journalisten Martin Spiewak über das Schicksal einer engagierten Lehrerin. Diese habe oft in Klassen mit „schwierigsten Schülern“ unterrichtet und ihre Schule als Familie betrachtet. Dann sei in der Schule wegen eines auffällig unterdurchschnittlichen Lesestands der Jungen und Mädchen eine Inspektion durchgeführt worden. Dabei sei neben anderen die 51-Jährige als „Minderleister“ beurteilt worden. Kritisiert habe man, unter anderem, eine angeblich mangelnde Empathie mit den Schülern. Die Pädagogin sei zusammengebrochen, habe eine Therapie begonnen und Antidepressiva benötigt. Nach drei Monaten sei sie verstorben. Niemand habe diese Folgen ahnen können, habe einer der inspizierenden Schulräte sich von jedem Vorwurf freigesprochen. Und überhaupt bräuchten Lehrer, so meinte der Betreffende, ein dickes Fell.

Reform der Lehrerausbildung
Priebe erläuterte den internationalen Kontext der nationalen bildungspolitischen Reformen. Insbesondere die vergleichenden Schulleistungsuntersuchungen TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study) und PISA (Programme for International Students Assessment) der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, 34 Mitgliedsstaaten) hätten uns aufgerüttelt, für Realitätsschübe und eine „Heilung von Illusionen“ gesorgt. Unter anderem sei belegt worden, was man zuvor nur geahnt habe: Hierzulande bestehe eine Koppelung zwischen sozialem Status und Bildungsniveau, eine Benachteilung von Schülern mit Migrationshintergrund. So seien „zentrale Leitvorstellungen internationaler Bildungsreformen“ in den Fokus gerückt. Priebe nante die Selbständigkeit der Schulen, die Vorgabe normativer Standards, die Verpflichtung zur Rechenschaftslegung und den Auf- und Ausbau effektiver Unterstützungssysteme. In diesem Rahmen auf die deutschen „Defizit-Anzeigen“ bei TIMSS und PISA reagierend, habe die Kultusminister-Konferenz „zentrale Handlungsfelder“ früh beschlossen. Zu diesen bildungspolitischen Konsequenzen zählten unter anderem die Einführung von Bildungsstandards, Verbesserung der frühkindlichen und grundschulischen Bildung, Reform der Lehrerausbildung, Professionalisierung der Aus- auch Fortbildung der Lehrkräfte, nationale Bildungsberichterstattung und der Ausbau der Ganztagsschulen.

Zu viel, zu schnell, zu massiv
Die Maßnahmen seien wie Lawinen hereingebrochen, so Priebe. „Viele von uns fühlen sich überfahren.“ Andererseits atme man auf und begrüße die unabdingbare Reform der Bildung, freue sich über die Entwicklungen und dass sich etwas bewege. Für ein Fazit sei es allerdings noch zu früh, meinte der Referent. Schon jetzt rät er jedoch zu einer Entschleunigung der Bildungsreformen. Er schlägt vor, ein wenig mehr innezuhalten. „Die laufenden Bildungsreformen sind unverzichtbar, aber es ist zu fragen, ob nicht zu viel zu schnell zu massiv gewollt wird.“ Das führe zu Motivationsverlusten. Auch hat Priebe den Eindruck, dass auf der „Großbaustelle der Bildungsreform“ die Stärkung der beteiligten Menschen „ein wenig bis viel“ vernachlässigt worden ist. Die alten wie neuen Aufgaben forderten heraus. Aber es genüge nicht, zu fordern, man müsse auch fördern. „Lehrer sollen heute Dinge tun, die sie in ihrer Ausbildung nie gelernt haben. Wie sollen wir das machen?“ Priebe skizzierte eine Zukunft, die über die Frage nach dem nachweislichen Erfolg hinausreicht. Es gehe nicht alleine um messbare Werte, es gehe um die Entwicklung der Kompetenz des Personals in der Schule und in der Schulaufsicht. Lehrer könnten scheitern. Gleiches gelte für die Kollegen in der Schulaufsicht. „Wir alle können scheitern. Aber mit Diskriminierung und Beschimpfung schaffen wir das nicht.“ Mit der „Minderleister“-Keule um sich zu schlagen, bringe nichts. Stattdessen sei Weiterqualifikation vonnöten. Es gehe um Versachlichung, um persönliche Beratung und Unterstützung, darum, Verständnis zu zeige. Das sei nicht mit „Weichspülen“ zu verwechseln. Gemeint sei ein Hinweisen, ein Aufmerksam-machen auf Fehlentwicklungen. Dabei müssten den Betroffenen auch Grenzen deutlich gemacht werden. Letztlich, so Priebe, gehe es um Wertschätzung, mindestens um Respekt und Achtung für Lehrkräfte und Schulleitungen. Das müsse entsprechend auch in der Öffentlichkeit vermittelt werden.

Persönliche Entwicklung ohne Bildung nicht möglich
Priebe kritisierte „Zocker und Habgierige“ ohne Gerechtigkeitsgefühl, die aufgrund mangelnder juristischer Kontrolle des Personals und der Finanzmärkte zur wirtschaftlichen Krise beitrügen. Diese wirke sich erfahrungsgemäß auch auf den Bildungsbereich aus. Kinder und Jugendliche müssten sich mit dem begnügen, was in diesem Bereich übrig bleibe. „Dabei ist ohne Bildung persönliche Entwicklung nicht möglich. Und ohne Bildung werden die Länder weltweit ihre Probleme nicht bewältigen.“ Man müsse sich klar darüber werden, betonte Priebe, dass Berufsethik weit mehr als Professionalität bedeute und Schulethos mehr als ein Schulprogramm sei. Es freue ihn, dass man sich in verschiedenen Bundesländern zu moralischen, berufsethischen Prinzipien bekenne, die zur Bereicherung von Bildung beitrage.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich