You are currently viewing Schulpolitischer Aschermittwoch im Haus der Evangelischen Kirche

Schulpolitischer Aschermittwoch im Haus der Evangelischen Kirche

Keine Rezepte für Bildung
„Als Evangelische Kirche haben wir zum Thema Bildung oder für die Bildungsdiskussion keine fertigen Rezepte“, führt Stadtsuperintendent Rolf Domning in seiner Begrüßung zum „Schulpolitischen Aschermittwoch“ ins Thema ein. „Aber“, so Domning, „aus unserer kirchlichen Perspektive sehen wir es als unsere Aufgabe an, kritischen Stimmen ein Podium zu bieten und selbstverständlich gewordene Meinungen und Positionen zu hinterfragen.“
Bildung ist nach evangelischem Verständnis immer auch die „Ermöglichung zu etwas“. Der Mensch als „Ebenbild Gottes“ ist, laut Domning, ein Wesen, das leben und sich entwickeln soll, in Freiheit etwas werden soll, das er noch nicht ist. „Sprechen wir, wie es in dem Titel zum nun folgenden Vortrag lautet, von ‚Veräußerung‘ von Bildung, so impliziert das die Sorge, dass ‚eine umfassende Bildung des Menschen und für den Menschen vielleicht aus dem Blick geraten könnte, dass das Humane vielleicht schleichend, aber doch nachhaltig veräußert werden könnte'“, mit diesen Worten gibt Domning den zahlreichen Vertretern und Vertreterinnen aus verschiedenen Schultypen, die auch in diesem Jahr wieder der traditionellen Einladung des Schulreferates und des Pfarramts für Berufskollegs ins Haus der Evangelischen Kirche folgten, einen guten Einstieg in den Vortrag von Professorin Dr. Ursula Frost.

Jeder hat seinen Preis
Mit einem Vergleich zur Preisetikettierung in Warenhäusern startet die Referentin ihren Vortrag. Denn genauso, sagt sie, „werden auch menschliche Einrichtungen und Menschen selbst immer häufiger in ihrem Wert berechnet und beziffert“. Ursula Frost spricht vom „ökonomischen Kalkül“, das sich auf menschliche Güter „bis hin zum Glück“ ausgeweitet hat. Diese Güter – und schließlich die Menschen selbst – werden, so die Expertin, zu „Produkten und Waren im großen Kosten-Nutzen-Kalkül“. Das aber stehe im Gegensatz zur christlichen und humanistischen Tradition von einer „absoluten und unveräußerlichen Menschenwürde“ (siehe Artikel 1 des Grundgesetzes).

Die Monetarisierung des Menschen – Was kostet der Mensch?
Kann man den Wert eines Menschen überhaupt berechnen? Tatsächlich gibt es Wissenschaftler, sagt Frost, die für die Berechnung des Wertes eines statistischen Lebens (WSL) mathematische Formeln aufgestellt haben. Neben einem erschreckenden Beispiel aus der Geschichte (eine Rentabilitätsberechnung von KZ-Häftlingen im Dritten Reich), das nur zur Warnung dienen könne, nennt sie zwei weitere Beispiele, die darauf eingehen, wie wir heute den „Preis“ eines Menschen ermitteln.
Zum einen geschehe dies, indem Menschen selbst festlegen, was sie bereit sind, für ihr Leben zu zahlen. Ermittelt wird dies wie im folgendem Beispiel: 10.000 Menschen in einem Fußballstadion erhalten die Information, dass einer von ihnen ausgelost werde und sterben müsse. Sie werden gefragt, was jeder einzelne bereit sei, zu zahlen, um dieses Risiko für sich auszuschließen. Die Chance, ausgelost zu werden ist bei 1:10.000 relativ gering – entsprechend sind einige bereit wenig auszugeben, andere sehr viel. Betrüge etwa der Durchschnittswert der Zahlungsbereitschaft 500 Euro, dann würde diese Summe durch das Todesrisiko (1:10.000) dividiert. Das Ergebnis 5 Millionen Euro ist dann der Wert für ein statistisches Leben.
Nach dieser Formel ist laut Frost in Deutschland zurzeit das Leben eines Menschen 1,6 Millionen Euro wert (übrigens: Ein Männerleben ist mit 1,72 Millionen mehr wert als ein Frauenleben mit 1,43 Millionen). Solche Berechnungen haben, so Frost, eine hohe politische Relevanz. Viele deutsche Volkswirtschaftswissenschaftler sehen darin ein sinnvolles Instrument für Kosten-Nutzen-Rechnungen im öffentliche Finanzwesen – beispielsweise bei Maßnahmen wie etwa Sicherheitsvorkehrungen im Straßenverkehr oder im gesundheitspolitischen Bereich. Übersteigen die Ausgaben den errechneten Wert des Gruppenmitgliedes nicht, dann lohnen sie sich – ansonsten nicht.

Humankapitalansatz
Ursula Frost nennt als ein weiteres Beispiel für die „Preisermittlung eines Menschen“ den Humankapitalansatz oder Produktionsansatz. Hier wird der Wert eines menschlichen Lebens nach dem Markteinkommen definiert, das von einem Menschen in seinem Leben erzielt wird. Vom Bruttoeinkommen wird das, was der Mensch zum Leben braucht, abgezogen und somit hat man das Nettohumankapital als Definition des ökonomischen Wertes eines Menschen.
Nach dieser Art der Berechnung wurden zum Beispiel Entschädigungszahlungen nach dem Anschlag am 11. September 2001 ermittelt. Sie dient aber zum Beispiel auch der Personalsteuerung in Unternehmen und wird in immer mehr Bereichen der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens genutzt. Menschen werden also als „Humanressource“, so Frost, neben anderen „Vermögenswerten“ als „Faktoren im Kalkül eines Unternehmens oder im staatlichen Gesamthaushalt berechnet“.

Saarbrücker Formel
Die nun von Frost vorgestellte „Saarbrücker Formel“, die zeigen soll, wie Unternehmen gut mit ihrem „Humankapital“ umgehen sollen, stellt eine mathematische Gleichung dar, die allen Zuhörern und Zuhörerinnen, die früher in der Schule gut in Mathematik aufgepasst haben, dennoch Schwindelgefühle verursachen müsste. Eine solche Berechnung des Nutzwertes eines Menschen für ein Unternehmen verdeutlicht, dass es nicht mehr um den Menschen selbst geht, sondern um rein marktstrategische Maßnahmen mit dem Ziel der Marktwertsteigerung von Menschen und schließlich natürlich Renditesteigerung.

Bildung als Rechenfaktor
Frost konstatiert, Bildung werde somit zum reinen Rechenfaktor – als berufsverwertbares Wissen und weiterhin als Personalaufwertung etwa durch Fortbildung. Bildung werde in die Menschen „investiert“, um deren Marktwert zu steigern und das „Verfallsdatum“ hinaus zu zögern. Man kann dies laut Frost zunächst positiv deuten: Bildung als Aufwertung des Menschen, etwas das sich lohnt und sich (im buchstäblichen Sinne) auszahlt. Aber wenn das Ergebnis Listen „hochpreisiger“ beziehungsweise „niedrigpreisiger“ Menschen sind, in denen Menschen genau wie sachliche Vermögenswerte berechnet werden, so gebe dies doch zu denken. Frost: „Der Einzelne wird zum Unternehmer seiner selbst und ist als solcher immer selbst für seine Marktlage verantwortlich.“

Homo oeconomicus regiert
Frost stellt fest, dass Bildung somit für jeden Einzelnen zum Maßstab von beruflichem Erfolg oder Misserfolg wird. Bildung als sogenannte „wichtige Humanressource“ zeige und befördere die Macht des „homo oeconomicus“. Dieser „homo oeconomicus“ wird als maßgebliches Menschenbild verbreitet, ein Menschenbild, das – so zitiert Frost Untersuchungen von Wirtschaftswissenschaftlern – bewusst implementiert wird, um eine Elite zu erziehen und Einfluss zu gewinnen. Der „homo oeconomicus“ sucht sich, laut Frost, aus dem „grenzenlosen Nutzengebirge“ der Welt das aus, was ihm den größtmöglichen Nutzen bringt – nur gebremst durch die Knappheit der Mittel, denn letztendlich sind es immer Geld oder andere Tauschmittel, die den Handlungsspielraum bestimmen. Der marktwirtschaftliche Wettbewerb impliziert zum einen eine Ungleichverteilung der finanziellen Mittel als gegeben. Gleichzeitig aber wird die Theorie des „vollkommenen Marktes“ vermittelt.
Frost beschreibt auch eine andere Seite des „homo oeconomicus“ – die des „sozialen Ingenieurs“, der nicht bloß desinteressiert ist und nur funktioniert, sondern die Geschicke der Wirtschaftsmaschine durchaus mit lenkt und die Regeln mit bestimmt.
Daraus ergibt sich eine Zweiteilung des ökonomischen Menschenbildes: Der normale Mensch als berechenbare Maschine und der Mensch als Sozialingenieur.

Das berechenbare Glück
Für ein solches Menschenbild sind, so die Referentin, nicht nur die Ökonomen verantwortlich, sondern natürlich auch Politik und Gesellschaft. Schon Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) machte als „nationalökonomisches Dogma den Glauben an das berechenbare Glück aus, das durch Bildung hergestellt werden kann“, erklärt Frost. „Möglichst viel Erkenntnis und Bildung, daher möglichst viel Produktion und Bedürfnis, daher möglichst viel Glück“, zitiert sie Nietzsche.
Der Philosoph sprach von der Bildungsaufgabe, möglichst „courante Menschen“ zu bilden, das heißt austauschbar und beliebig verwendbar – wie eine Münze. Mehr Kultur und Bildung als im Interesse des Erwerbs ist, laut Nietzsche, nicht nötig und reicht aus für den notwendigen Anspruch auf das mit Geld kaufbare „Erdenglück des Menschen“. Für die Teilhabe an den Märkten, also das berechenbare Glück, müssen nach Nietzsche Menschen „marktförmig“ gemacht werden, das heißt sich selbst kaufkräftig, aber auch zugleich verkäuflich machen. Die Parallelen von Nietzsches Gedanken zur heutigen Zeit sind erstaunlich und zeigen, laut Frost, wie sich das Kosten-Nutzen-Kalkül als „moralisches Erfordernis“ auf alles ausbreiten kann und wie schwierig es ist, sich dem entgegen zu stellen.

Preis und Würde
Es ist aber, erklärt Frost, zwischen dem Preis des Menschen und seiner Würde zu unterscheiden. Im christlichen Gedanken der Gottesebenbildlichkeit sei eine Grundlage für das Verständnis des Menschen als Freiheitswesen gegeben und damit seine Würde als ein „unverlierbares Gut“ zu deuten.
Auch in der Lehre Immanuel Kants (1724 bis 1804) werde zwischen Preis und Würde des Menschen unterschieden. Der Wert des Menschen sei gar aus deren Gegensatz zu bestimmen. Preis und Würde sind, nach Kant, verschiedene Formen des Wertes, die dem Menschen inne wohnen. Er unterscheide zwischen dem Menschen als Naturwesen und dem Menschen als Freiheitswesen: Als Naturwesen unterscheidet sich der Mensch kaum vom Tier und hat nur einen gemeinen Wert. Sein „Preis“, sein Gebrauchswert, wird, nach Kant, nur durch seine Verstandesbegabtheit erhöht. Unter Preisgesichtspunkten gesehen, werde er den Wert von Geld als allgemeinem Tauschmittel nie erreichen.
Als Freiheitswesen komme dem Menschen, postulierte Kant, allerdings absolute und unverlierbare Würde zu. Und damit werde er zum Wesen, dass sich nicht kaufen und verkaufen lässt. Auch wenn der Preis des Menschen sich an seinem Verstand festmachen lässt, liegt seine Würde in der Moralität und damit in der Humanität. Laut Kant macht die Moralität den Menschen zum Menschen und nicht der Verstand – nicht seine Nutzbarkeit und Leistungsfähigkeit, sondern sein Wollen und Sollen.
So betrachtet, sagt Frost, ist die Menschenwürde unveräußerlich und unverrechenbar.
In Kants Lehre vom Kategorischen Imperativ finde sich diese Lehre vom absoluten Wert des Menschen wieder: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Und den Menschen als Mittel zu gebrauchen, müsse immer der Anerkennung seiner Würde untergeordnet sein. Moralität könne also nur die Grundlage für die „Preisbestimmung“ des Menschen sein.

Pädagogische Kapitulation
Welcher Wahrnehmungsrahmen prägt nun unser Verständnis und unseren Umgang mit Bildung, fragt Ursula Frost. In Anbetracht des momentanen bildungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Mainstreams könne man den Eindruck gewinnen, die Pädagogik kapituliere vor dem „homo oeconomicus“. Wenn die Rede von Bildung als quantitativ messbarer und steuerbarer Leistung sei, von Standardisierung und Qualitätskontrolle, von Leistungsproduktion, wenn es etwa in Abiturprüfungen nur darum geht, wie Wissen anzuwenden ist, nicht aber, wie es begründet ist, dann liege diese Vermutung nahe. Bildung werde entscheidend vom Wettbewerb bestimmt, so Frost. Es gelte der „kompetitive Imperativ“. Bildung werde als Produkt ausgestellt wie eine Ware ohne eigenen Wert, ebenso wie die Sachen und die Menschen, die darin vorkommen.
Demgegenüber wird, so Frost, eine Tradition, die ganz andere Bildungshorizonte eröffnet hat, nämlich „den unendlichen Wert jedes einzelnen Menschen zu betonen“, für tot erklärt – der Mensch etwa als Ebenbild Gottes, als Freiheitswesen, als unvergleichliches Individuum. Dabei stehe jedoch der Wert des Einzelnen immer im Bezug zur Gemeinschaft. Menschsein werde als Selbstsein und Mitsein verstanden – nicht auf Kosten anderer also, sondern auch mit und für andere. Es gehe um Mitteilen und geteilte Existenz und nicht nur um Interessen. Denn Gemeinschaft entsteht, so Frost, wenn man Interessen überwindet.
Pädagogik steht in ihrem Grundverständnis immer im Zeichen der Zuwendung zum Menschen, und das ist etwas anderes als „Coaching zur Selbstoptimierung“, nämlich das Schenken von Aufmerksamkeit an ganz konkrete Personen, „die dadurch erst als solche erfahren werden und zur Geltung kommen können“- mit allen Stärken und Schwächen, Personen, deren Würde geachtet wird.

Würde wahren
Die Professorin fasst zusammen, dass es darum geht, eine Bildung zu vermitteln, die zum Ziel hat, die Würde des Menschen zu wahren. „Denn damit stehen wir nicht nur in einer christlichen und aufklärerischen Tradition, wir erfüllen damit auch in erster Linie das Grundgesetz.“ Es gelte die Ökonomisierung der Bildung und damit die Entwertung des Menschen sowie die fortschreitende Entwertung von Bildung durch Bindung an den Marktpreis aufzuhalten. Frost fordert eine „humanistische Revolte“, bei der die Marktfähigkeit des Menschen nicht durch Bildung gesteigert, sondern durch Bildung unterbrochen wird.
Humane Bildung könne nur Hilfe zur Selbstwerdung des Menschen werden, wenn sie sich nicht für äußere Zwecke missbrauchen lasse. Bildung müsse als Dienst an der Menschenwürde verstanden werden, und diese Aufgabe bedürfe aller Anstrengung.

Zuwendung oder Aktivierung?
In der anschließenden Diskussion, moderiert vom stellvertretenden Stadtsuperintendenten Markus Zimmermann, wird angemerkt, dass im Rahmen von Qualitätsanalysen an Schulen zum Beispiel von „Schüleraktivierung“ die Rede ist, was allerdings nicht eine Zuwendung zum Schüler bedeute, sondern lediglich, diese, vielleicht in der achten Stunde etwa im Fach Religion, zum Unterricht zu „aktivieren“. Schüler als Individuen verschwänden hinter Zahlen und Noten, würden als Menschen kaum wahrgenommen.
Genau das, so Frost, sei ein Beispiel für die Inhumanität unseres Bildungswesens. Noten gehörten zur Schule und darüber könne man auch streiten. Aber jede einzelne Leistung gehe (auch an der Universität) in eine Note ein – der Spielraum, auch einmal etwas auszuprobieren und gegebenenfalls zu scheitern, um an diesem Scheitern zu wachsen und die wirklichen Werte zu erkennen, gehe verloren.
In einer sehr anregenden Schlussdebatte um den Kompetenzbegriff, um Qualitätsanalysen an Schulen und ständige Konzeptanforderungen an Lehrer zeigt sich am „Schulpolitischen Aschermittwoch“ im Kölner Haus der evangelischen Kirche die hohe Brisanz des Themas – und auch die persönliche Betroffenheit der anwesenden Menschen, die für die Umsetzung von Bildung an Schulen verantwortlich sind.







Text: Susanne Herrmanns
Foto(s): Susanne Herrmanns