Es war kein leichter Gottesdienst, der am letzten Juni-Wochenende in Meschenich stattfand: Fast auf den Tag genau 40 Jahre nach ihrer Einweihung wurde die Thomaskirche entwidmet. Für Gemeindepfarrer Stefan Jansen-Haß war der Abschied besonders emotional: „Ich war schon als 16-Jähriger bei der Einweihung der Kirche dabei“, erzählt der Theologe, der in Meschenich zwar nicht geboren, aber seit frühester Kindheit in jenem dörflichen Stadtteil im Kölner Süden aufgewachsen ist. Seine Lebensgeschichte ist eng mit der 1980/81 entstandenen Dorfkirche verwoben. Hier fragte sein Vorgänger den damaligen Teenager, ob er bei der Gestaltung von Kindergottesdiensten mitwirken wollte – und legte so das Fundament für seine weitere berufliche Laufbahn. Damit nicht genug: „Hier habe ich meine erste Predigt gehalten, hier bin ich als Pfarrer eingeführt worden. Hier standen die Särge meiner Mutter und meiner Großtante“, berichtet der Gemeindepfarrer. Trotz dieser „lebensgeschichtlichen Verstrickungen“, wie er sie nennt, stehe er hinter der Entscheidung, die Kirche zu entwidmen: „Ich bin pragmatisch genug, es für die Gemeinde richtig zu finden. Trotzdem ist es nicht leicht.“
Umso mehr bedeutete es ihm, dass er in Vorbereitung des Abschiedsgottesdienstes das Liedblatt vom 28. Juni 1981 hervorholen konnte, um bei den Feierlichkeiten die gleichen Lieder anzustimmen wie damals: „So schließt sich ein Kreis, das hat etwas Tröstliches.“ Beim Entwidmungsgottesdienst standen ihm seine Kolleginnen Sandra Nehring und Renate Gerhard zur Seite. Synodalassessorin Simone Drensler hielt die Predigt, der Posaunenchor der Evangelischen Kirchengemeinde Brühl spielte und Kantorin Marion Köhler stimmte noch einmal die zierliche Dorfkirchenorgel an, die samt Pfeifen nicht größer ist als ein Kleiderschrank. Auch künftig wird es evangelische Gottesdienste in Meschenich geben, dann aber in der katholischen Kirche St. Blasius. „Wir feiern dann am gleichen Altar: morgens katholische Messe, am frühen Mittag evangelischen Gottesdienst“, kündigte Jansen-Haß seiner Gemeinde im Entwidmungsgottesdienst an. Damit das nicht nur jetzt gewährleistet ist, wo ökumenisches Miteinander im Dorf gelebte Realität ist, sondern auch in Zukunft, haben die beiden Gemeinden darüber einen Vertrag geschlossen.
Was mit dem Gebäude Thomaskirche und dem Gelände, auf dem sie steht, geschehen wird, ist noch nicht entschieden. Die Gemeinde sucht einen neuen Träger, dies könnten zum Beispiel die Stadt Köln oder die Antoniter Siedlungsgesellschaft mbH sein. Fest steht, dass die Nutzung dauerhaft diakonischen Zwecken dienen soll. „Hier werden keine Stadthäuser gebaut. Wenn schon an diesem Ort nicht mehr gesungen und gebetet wird, dann soll zumindest etwas Neues entstehen, was im Sinne dessen ist, zu dem gesungen und gebetet wurde“, versichert Stefan Jansen-Haß. Denkbar sind für ihn Räume, die für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen genutzt werden – unter anderem auch für die Behandlung traumatisierter Flüchtlingskinder. Dass dafür Bedarf besteht, weiß er aus Gesprächen mit der Kinderärztin, die für ihren Praxisbetrieb seit 2017 Räume innerhalb der Kirche gemietet hat. Eine Arztpraxis unter dem Dach der Kirche: Das war seinerzeit ein Präzedenzfall und der Versuch der Gemeinde, das Haus durch eine erweiterte Nutzung doch noch halten zu können.
Die Entwidmung der Dorfkirche nur 40 Jahre nach ihrer Einweihung zeigt, welchen Wandel das Dorf durchlaufen hat, das ein Stadtteil von Köln ist, gemeindlich aber zum Nachbarort Brühl gehört. Geprägt ist Meschenich von zwei Merkmalen, die gegensätzlicher kaum sein könnten: einerseits das historische Dorf, andererseits die Hochhäuser, die als Kölnberg bekannt wurden und heute einer der Brennpunkte der Domstadt sind. Als Meschenicher kann Stefan Jansen-Haß viel über die sozialen Entwicklungen des kleinen Ortes erzählen. Den Grundbestand der hiesigen evangelischen Gemeinde bildeten, sagt er, ehemalige Ostpreußen, die infolge des zweiten Weltkrieges hier neue Wurzeln gefunden hatten. Sie beharrten darauf, dass man eine „Predigtstätte“ brauche, die Vorläufer der Thomaskirche bildete. Diese entstand aber erst durch die Zuzüge, die etwas später die Hochhaussiedlung mit sich brachte.
„Als ich 1972 eingeschult wurde, wurde der Kölnberg langsam fertig. Die Hochhaussiedlung wurde vom Dorf beargwöhnt, war aber gut beleumundet. Man hatte gesagt, sie werde das Dorf aufwerten, und das ist zunächst auch passiert: Mit dem Kölnberg kamen Tennisplätze, ein Schwimmbad, Spielplätze und die Busverbindung zum Zentrum – alles, wovon wir vorher nur träumen konnten. In der ersten und zweiten Generation bildeten die Bewohner den Querschnitt der westdeutschen Bevölkerung ab“, erzählt der Pfarrer. In Spitzenzeiten habe es 1.400 evangelische Menschen im Dorf gegeben. Mit Blick auf diese vermeintlich explodierende Gemeinde wurde 1980/81 die Thomaskirche errichtet. Doch schon im nächsten Jahrzehnt wandelte sich Meschenich spürbar. Die aufwändige Infrastruktur der Hochhäuser mit Schwimmbad, Concierge und Tennisplätzen machte das Leben darin zu einem kostspieligen Vergnügen. „Immer mehr Bewohner sagten sich: Für das, was wir hier zahlen, kann man sich etwas anderes suchen“, erinnert Jansen-Haß. Durch den Wegzug gutsituierter Familien begann der Verfall der Hochhäuser.
Die Einschnitte betrafen auch die evangelische Gemeinde: Unter denen, die wegzogen, waren viele evangelische Menschen. Schon Mitte der 90er Jahre gab es erste Diskussionen über die Zukunft der Thomaskirche. Als im Jahr 2000 Stefan Jansen-Haß die Gemeinde von seinem Vorgänger übernahm, zählte sie noch 600 Personen. Jansen-Haß setzte Akzente im Bereich der Ökumene und Diakonie. So wurden zum Beispiel in der Thomaskirche die Stadtteilmütter ausgebildet. Einige Jahre lang nutzte auch eine christliche Gemeinde afrikanischer Herkunft das kleine Gotteshaus. Die rege Nutzung änderte aber nichts daran, dass die sinkenden Mitgliederzahlen finanziell zu Buche schlugen. Rücklagen, die eigentlich für den Erhalt des Gebäudes erforderlich wären, waren nicht mehr in ausreichendem Maße möglich.
Den entscheidenden Impuls gab eine Gebäudestrukturanalyse, mit welcher die Evangelische Kirchengemeinde Brühl vor 15 Jahren die Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen beauftragte. „Wir haben im ganzen Gebiet der Gemeinde unsere Gebäude bewerten lassen. Dabei ging es um Qualität, Nutzung, Auslastung, Lage, Struktur und Umgebung“, berichtet Jansen-Haß. Nach langen Überlegungen trafen die Brühler Protestanten eine Entscheidung, die niemandem leicht fiel: Drei ihrer Kirchen werden in diesem Jahr entwidmet. Wenn Stefan Jansen-Haß sich ausmalt, wie es künftig dort aussehen soll, wo jetzt die Thomaskirche steht, dann wäre ihm aber ein Abriss und Neubau lieber als die Nutzung des vertrauten Hauses unter neuen Vorzeichen: „Es tut mehr weh, an der Kirche vorbei zu gehen.“ Schon im Vorfeld graute ihm vor dem endgültigen Abschied. „Der Moment, wo ich das letzte Mal abschließe und meinem katholischen Kollegen unsere Bibel in die Hand lege – das wird eng“, ahnte er.
Foto(s): Oliver Rindelaub