Bei „Brot & Buch & Innenhof“ haben die fünf Studienleitenden und der Akademieleiter der Melanchthon-Akademie (MAK) rund um das Haus der Evangelischen Kirche und der Kartäuserkirche je ein Buch vorgestellt und Impulse gesetzt. „Im letzten Jahr haben wir uns mit Kintsugi in der Trauerarbeit beschäftigt“, begrüßte Studienleiterin Lea Braun. Kintsugi sei die japanische Reparaturkunst des Zusammenfügens zerbrochener Gegenstände in einem sehr aufwändigen Prozess mittels Goldlack. In diesem Semester wolle man in den Fachbereichen schauen, wo gesellschaftliche, biografische und ökologische Risse auszumachen seien. „Wie begegnen wir ihnen, wie halten wir sie aus?“
Lena Marie Felde führte mit einer philosophischen Auseinandersetzung in die Mehrdimensionalität von Rissen ein. Nietzsche beschreibe den Menschen als doppelt, zerrissen zwischen Natur und Kultur. Aber seine Antwort darauf sei nicht wie bei vielen Philosophen, diesen Riss zu kitten oder zu überwinden. „Nietzsche möchte den Riss tanzen.“ Das von ihm aufgeworfene Bild des Dionysischen werde zur Bejahung der Zerrissenheit. Tanz und Spiel seien die leibliche Geste der Affirmation. Dazu trug Felde eine Passage aus „Nietzsche. Ein Lesebuch“ von Gilles Deleuze vor.

Mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. habe das jüdische Volk sozusagen den Mittelpunkt seines Lebens verloren, sagte Akademieleiter Martin Bock. Jüdinnen und Juden hätten einfach nicht mehr gewusst, wie sie den biblisch-jüdischen zentralen Versöhnungstag überhaupt noch hätten feiern müssen und können. Auf diese absolute Katastrophe, diesen plötzlich aufgetretenen Riss habe der Autor des Hebräerbriefes reagiert in dem Sinne: „Wenn es schon keinen Tempel mehr gibt, keinen normalen Versöhnungstag, dann verlege ich den einfach in den Himmel.“ Der Neutestamentler Klaus Wengst sei an dieser anspruchsvollen Schrift nicht vorbeigegangen, sondern habe im hohen Alter mit „Messias und Hohepriester. Jesus im Hebräerbrief“ ein inspirierendes Buch verfasst.
„Wie können wir uns gegen die Zerrissenheit stellen, was hilft uns, mit diesen Rissen umzugehen?“, fragte Antje Rinecker angesichts insbesondere der weltpolitischen Lage. Im großen Galiläa präsentierte die Publikation „Good Vibrations. Die heilende Kraft der Musik“ von Prof. Stefan Kölsch. Der Psychologe und Neurowissenschaftler ist obendrein studierter Musiker. Vor kurzem verbrachte Rinecker ein Woche in der internationalen geistlichen Gemeinschaft auf der schottischen Insel Iona. „Nur in Gemeinschaft und mit Gemeinschaft können wir überhaupt etwas für den Frieden tun“, laute deren These. Das passe sehr gut zu „Good Vibrations“, dessen „sehr angenehm und leicht schreibenden“ Autor die Studienleiterin einen Hort des Wissens nannte.

„Risse sind omnipräsent“, stellte Dr. Stefan Hößl fest. Wichtig ist dem Studienleiter, sich dafür immer wieder selbst zu sensibilisieren. Viele Risse seien offensichtlich. Dass man andere überhaupt nicht erkenne, zumindest nicht unmittelbar, liege etwa daran, „wie ich aufgewachsen bin, wie ich auf die Welt gucke“. Besonders deutlich geworden sei ihm das zuletzt auf einer Tagung zu internationalen Konflikten. Zahlreiche Ereignisse hätten dort im Fokus gestanden, „aber, wie sie oft, andere überhaupt gar nicht“. Darunter viele insbesondere in afrikanischen Regionen. Von seinem Vorgänger Joachim Ziefle habe er den Asientag in der MAK „geerbt“ und schon zwei Mal in Kooperation unter anderem mit der Stiftung Asienhaus hier im Haus umsetzen dürfen. Hößl sprach von einem tollen Lernansatz, weil er Impulse erhalten habe, noch mehr über Regionen und Bewegungen in dieser Welt nachzudenken. Das Handbuch Myanmar sei von Ute Köster, Phuong Le Trong und Christina Grein 2015 herausgegeben worden, in einer sehr hoffnungsfrohen Zeit mit demokratischem Aufbruch. In den zehn Jahren danach habe sich das mit Militärputsch, Massakern an der islamischen Minderheit und Bürgerkrieg merklich geändert.
Vor dem Abschluss mit Gesprächen bei Brot und Wein im Refektorium hatte Dorothee Schaper im angrenzenden Kastanienhof drei Mäntel an Bäumen und Wänden im Dreieck angeordnet. Die Pfarrerin zitierte aus dem Buch Jesaja. Der Prophet beschreibt in biblischen Krisenzeiten das Bild, „dass Gott Menschen mit dem Mantel der Gerechtigkeit kleidet“. Mit dem Dreieck der Mäntel, die den ganzen Abend als Merkposten dienten, wies Schaper auf die gegenseitige Verstrickung und Verantwortung von Deutschen, Israelis und Palästinensern hin. „The Moral Triangle“ ist das von ihr präsentierte Buch betitelt, in der deutschen Übersetzung „Israelis, Palästinenser und Deutsche in Berlin“.
Foto(s): Engelbert Broich
