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Vortrag von Prof. Dr. Siegfried Hermle in der Paul-Gerhardt-Kirche.

Professor Dr. Siegfried Hermle über „Antijudaistische und antisemitische Traditionen in der evangelischen Kirche“

Der Kirchenhistoriker Dr. Siegfried Hermle, Professor am Institut für Evangelische Theologie der Universität zu Köln, gilt als Koryphäe zum Thema Christen und Juden. In der Paul-Gerhardt-Kirche zog er seine Zuhörende in seinen Bann. In angemessenem Tempo widmete sich der Theologe, ausgehend vom Neuen Testament bis in die Gegenwart, über eine Stunde formulierungsfreudig, fakten- und zitatreich „antijudaistischen und antisemitischen Traditionen in der evangelischen Kirche“. In ihrer Begrüßung stellte Pfarrerin Ulrike Gebhardt von der gastgebenden Evangelischen Kirchengemeinde Köln-Lindenthal fest, dass ein differenzierter Blick auf das Thema notwendig sei. Hermle untermauerte dies und erklärte eingangs, dass er das Verhältnis Luthers zu den Juden außen vor lassen werde. Im Lutherjahr sei es ausführlich behandelt worden.

Zeit der frühern Kirche – ein komplexes Wechselspiel aus Faszination und Abstoßung

Hermle blickte zunächst auf die Judenfeindschaft der frühen Kirche und ging ein auf den Antijudaismus im Neuen Testament (NT). Juden hätten das NT in ihren wesentlichen Bereichen verfasst und geschrieben. Im Judentum um die Zeitenwende sieht Hermle den Ursprung sowohl des rabbinischen Judentums als auch der frühen Kirche. Der amerikanische Judaist Daniel Boyarin habe für die Zeit nach der Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. „ein komplexes Wechselspiel aus Faszination und Abstoßung“ zwischen den existierenden Gruppen festgestellt. Einen „Kessel zerstrittener, dissonanter, manchmal freundlicher, öfter feindseliger, üppiger religiöser Produktivität“. Dafür führte Boyarin den Begriff „Judäo-Christentum“ ein. Der gemeinsame „Kessel“ beider Gruppierungen habe einerseits Bezüge auf dieselben Traditionen und theologischen Grundanschauungen bedingt, andererseits jedoch auch Material zur Ausbildung von je eigenen Charakteristika geboten.

„Die Evangelien und die neutestamentlichen Briefe sind Zeugnisse einer vehementen Auseinandersetzung innerhalb des Judäo-Christentums“, so Hermle. „Wir haben oft nur eine innerjüdische Polemik vor uns“, die wir also nicht antijudaistisch bezeichnen könnten. Für Paulus seien vor Christus alle Menschen gleich: „Hier ist kein Jude noch Grieche…“. Bei Johannes heißt es: „Das Heil kommt von den Juden.“ In der Geschichte der Kirche hätten zumeist jene Texte besondere Beachtung und Aufnahme gefunden, „die eine Distanz zwischen Christen und Juden zum Ausdruck brachten“.

Stereotype, Pogrome und systematische Ausgrenzungen

Mit den Jahrzehnten und Jahrhunderten hätten sich vielfach antijudaistische Aussagen herausgebildet. Verstockt seien die Juden, mit Blindheit geschlagen, heißt es in manchen Quellen. Mit den gängigen Bausteinen habe man die Überlegenheit des Christentums ausdrücken wollen. „Die Kirche hat das Judentum beerbt, Juden verdrehen die Heilige Schrift, Synagogen sind Orte des Unglaubens“, zählte Hermle weitere Unterstellungen auf. „Zudem bildete sich die Vorstellung aus, die Zerstörung Jerusalems und die Diasporaexistenz des jüdischen Volkes seien Strafen für die Ablehnung Jesu und Ausdruck der Verwerfung Israels. Besonders infam war der Vorwurf, die Juden seien Christus-, ja Gottesmörder und die Schuld am Tode Christus hätten alle Juden für alle Zeit zu tragen“, skizzierte Prof. Hermle die Ansichten aus dem Mittelalter.

„Im Früh- und Hochmittelalter gibt es weitere, neue Stereotypen, Pogrome und systematische Ausgrenzungen.“ Das Aufblühen jüdischer Gemeinden sei mit den Pogromen im Zuge des Ersten Kreuzzuges 1096 dramatisch beendet worden. „Theologische Aussagen werden in politische umgesetzt.“ Infam bezeichnete Hermle die trotzt päpstlichen Widerspruchs erhobenen Beschuldigungen, Juden hätten Brunnen vergiftet, Ritualmorde und Hostienfrevel begangen. Er erinnerte an diffamierende Kleiderordnungen für Nichtchristen, das Judentum herabsetzende, wirkmächtige Symbole in der bildenden Kunst und Talmudverbrennungen. Und sprach über die Folgen von Zinsverbot und Zunftzwang, die Auslöschung von jüdischen Gemeinden und Vertreibungen.

„Moderner” Antisemitismus

Der „moderne“ Antisemitismus habe die Judenfeindschaft vielfach mit wissenschaftlichem Anstrich rassistisch, statt religiös, begründet. „Der Ende des 19. Jahrhunderts ausgebildete Antisemitismus, vereinte religiöse, ökonomische, soziale, antimodernistische, antiliberale und rassistische Motive“, stellte er fest. Ausgesprochen rassistische Positionen vertraten laut Hermle der französische Historiker Joseph Arthur de Gobineau, der deutsche Journalist Wilhelm Marr und der Brite Houston Stewart Chamberlain.

„Viele der antisemitischen Gedanken sind bei den Menschen angekommen“, so Hermle. Dafür sei auch der protestantische Theologe Adolf Stoecker verantwortlich. Alle großen Theologen dieser Zeit hätten beim Berliner Hofprediger gelernt und seine Ablehnung der Juden mitgenommen. Zu den protestantischen Gegenstimmen zählt Hermle den Theologen Martin Rade. „Die Juden sind nicht Urheber der Nöte der Gegenwart“, schrieb der evangelische Pfarrer und linksliberale Politiker. In bestimmten Kreisen habe jedoch die salonfähige Vorstellung geherrscht, die Juden seien immer schuld.

„Die evangelische Kirche hatte wenig entgegenzusetzen”

Hermle referierte weiter zu latentem Antisemitismus während des Ersten Weltkrieges und in der Zwischenkriegszeit, Antisemitismus als Ideologie einer Partei und protestantischen Pro- und Contra-Stimmen. „Die Religion eines orientalischen Volkes kann für die Deutschen nicht maßgeblich sein“, habe der norddeutsche Theologe Friedrich Andersen geschrieben. Jesus sei wohl ein Arier gewesen. Eine wissenschaftliche Rassenlehre sei Unsinn, habe der liberale Kieler Theologe Otto Baumgarten widersprochen.

„Die evangelische Kirche hatte wenig entgegenzusetzen“, sagte Hermle im Kapitel über den Antisemitismus im Zeichen der Schoa. Man sei sich einig gewesen, dass der übermäßige Einfluss der Juden habe gebrochen werden müssen. Aktiv, „als eine Frage des Bekenntnisses“, sei die Kirche erst dann geworden, als christlich getaufte Juden verfolgt wurden. Hermle nannte beispielhaft den evangelischen Theologen Heinrich Grüber, Leiter der „Hilfsstelle für nichtarische Christen“. „Wenige Stimmen gab es gegen Ausgrenzung, sie kamen, aber zu spät“, so Hermle. Dabei habe Widerstandskämpferin Elisabeth Schmitz aus den Reihen der Bekennenden Kirche schon 1935 die Evangelische Kirche aufgefordert, sich gegen die Entrechtung und Verfolgung von Juden einzusetzen.

Über die Evangelische Kirche im Rheinland

„Wie hat sich die evangelische Kirche danach verhalten?“, fragte der Kölner Theologieprofessor. Nach 1945 habe es ein Umdenken gegeben, Hermle sprach von einem bis in die 1960/70er Jahre erlebbaren Schuldabwehr-Antisemitismus. Dieser habe sich dann in einen Antizionismus gewandelt. IM Anschluss ging er auf das Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von Oktober 1945 ein: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ Aber die Juden seien nicht explizit erwähnt worden – dafür im 1946 vom evangelisch-lutherischen Pastor Paul Schempp verfassten Schuldbekenntnis der Kirchlich-theologischen Sozietät in Württemberg.

Das Bekenntnis „Wort zur Schuld an Israel“ der EKD-Synode im April 1950 in Berlin spreche erstmals von der Mitschuld der Kirche und der Christen an den Verbrechen an den Juden, so Hermle. In diesem Text habe sich eine neue Theologie abgezeichnet. Eine bedeutende Einrichtung stellte der Kirchenhistoriker mit der 1961 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen“ beim Evangelischen Kirchentag vor. Wegweisend sei in der rheinischen Landeskirche nach dem Synodalbeschluss von 1980 die Anfügung 1996 im Grundartikel der Kirchenordnung erfolgt: „Sie (die Evangelische Kirche im Rheinland) bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.“

In der abschließenden Publikumsrunde sprach ein Besucher über eine damalige massive Gegenwehr in Gemeinden gegen entsprechende Erklärungen der Landeskirche. Tatsächlich sei ein gewandeltes Verständnis, seien Beschlüsse noch nicht in allen Bereichen umgesetzt, hierzu nannte Hermle zum Beispiel Hochschulen. Die Diskussion in der EKD sei auch noch lange nicht abgeschlossen, werder in der Kirche bis nach unten durchgesickert, noch in der ganzen Breite sichtbar – aber es bestehe Hoffnung. Zum Schluss ergriff noch einmal Pfarrerin Ulrike Gebhardt ds Wort und stellte fest: „Die Arbeit über das Verhältnis von Christen und Juden geht nur ökumenisch.“

Text: E. Broich
Foto(s): E. Broich