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Patienten erleben in Klinikaufenthalten einen Ausnahmezustand

Von einer Diskrepanz in der medialen Darstellung der Hausärzte und der Realität sprach Professor Dr. Jochen Gensichen jüngst auf einer medizinethischen Tagung im Haus der Evangelischen Kirche: „Gemessen daran, wie viele Hausärzte das deutsche Fernsehprogramm bevölkern, vom Bergdoktor bis zur Schwarzwaldklinik, die heilend herbeieilen und die Herzen der Fernsehzuschauer höher schlagen lassen, steht die Allgemeinmedizin gut da.“

Wie gut das Symposium „Hauptsache gesund (?) – Übergänge in der Medizin“, bei dem über die „ärztliche Versorgung zwischen Spezialisierung und Ganzheitlichkeit“ diskutiert wurde, in das Programm der Melanchthon-Akademie passe, betonte deren Leiter, Pfarrer Dr. Martin Bock, in seiner Begrüßung: „Melanchthon ist es um ein therapeutisches Verständnis des christlichen Glaubens, um den ganzen Menschen gelegen gewesen“. Aus diesem Grunde, so Bock weiter, bemühe sich die Akademie in ihrem „Bildungsprogramm Zugänge zum ganzen Menschen zu finden“.

Anspruchsvolle Aufgabe der Hausärzte
Eingeladen hatte die Melanchthon-Akademie des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region zusammen mit der „Stiftung Allgemeinmedizin“, vertreten unter anderem durch deren Geschäftsführer Professor Dr. Jochen Gensichen sowie dem ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Manfred Kock, welcher Mitglied im Kuratorium der Stiftung ist. Ziel dieser Stiftung sei es, so deren Gründer Gensichen, das Bewusstsein für die Bedeutung der Allgemeinmedizin zu stärken und zudem „die Kompetenzen der Allgemeinmedizin zu fördern und weiter zu entwickeln“. Über Anerkennung von den Patienten könne sich diese Sparte nicht beklagen. Zudem sei es eine anspruchsvolle Aufgabe, denn kein anderer Beruf erfordere so ein breites medizinisches Wissen, wie der des Hausarztes. Auf der anderen Seite jedoch, beklagt Gensichen, „werden allgemeinmedizinische Grundwerte, wie etwa die besondere Arzt-Patienten-Beziehung, immer weniger geschätzt und drohen unserem Gesundheitssystem verloren zu gehen.“

Viel Prominenz und Fachkompetenz
Der Einladung gefolgt waren etliche namhafte Referentinnen und Referenten, angefangen beim Präsidenten der Bundesärztekammer, Professor Dr. Frank Ulrich Montgomery, über die evangelische Universitäts‐Professorin und Theologin Dr. Cornelia Richter bis hin zu Professor Dr. Konrad Reinhart, Direktor der Jenaer Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin und dem Geschäftsführer des „gesundheitsladen köln e.v.“, Gregor Bornes. Ebenso viel Fachkompetenz war zudem im Plenum vertreten.

Risiken und Fortschritte der Spezialisierung
Er sehe in so viele erwartungsvolle Augen, aber befürchte, dass er die Erwartungen gar nicht erfüllen könne, vermutete dann Professor Dr. Frank Ulrich Montgomery, der den Eröffnungsvortrag zum Thema „Ärztliche Versorgung zwischen Spezialisierung und Ganzheitlichkeit“ hielt und dann offenkundig doch sämtliche Erwartungen durch einen lebendigen Vortrag mit anschließender ebenso lebendiger Aussprache erfüllte. Montgomery erläuterte, welche Fortschritte der modernen Medizin der im 19. Jahrhundert einsetzenden Spezialisierung zu verdanken seien und welche Gefahren diesen Errungenschaften heute entgegenstünden. Dies sei, scherzte der Radiologe Montgomery, ein durchaus sein Privatleben berührendes Thema: „Meine Ehefrau ist niedergelassene Allgemeinmedizinerin, so dass ich diesen Konflikt zwischen Spezialisierung und Ganzheitlichkeit jeden Tag am Esstisch habe.“
Montgomery definierte den Allgemeinmediziner als „Facharzt fürs Allgemeine“, wenngleich ihm bewusst sei, dass sich dies wie ein Widerspruch anhöre. Dieser Berufsgruppe könne aber in Zukunft, da mit zunehmender Spezialisierung zu rechnen sei, eine besondere Rolle zukommen.

Begleitung von der Geburt bis zum Grab
„Spezialisierte Versorgung wird in unserer Gesellschaft gleichgesetzt mit qualitativ hochwertiger Versorgung“, erinnerte Montgomery und verwies darauf, dass doch wohl jeder Mensch bei Schmerzen im Knie die Tendenz habe, sofort zum Spezialisten zu gehen, ohne zuvor noch den Hausarzt zu konsultieren. „Die Zeiten, als der Praktische Arzt von der Geburt bis zum Grab die gesamte medizinische Versorgung gewährleistete, gehören der Vergangenheit an“, betonte Montgomery dann auch nachdrücklich, der auch auf seine eigenen begrenzten Kompetenzen verwies, obwohl sein Spezialgebiet, die Radiologie, ein Querschnittsfach sei, in dem er mit dem gesamten Menschen zu tun habe: „Ich kann Ihnen wunderbar sagen, was Sie haben, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie man es behandelt.“ Diese Spezialisierung habe beeindruckende Erfolge vorzuweisen, die nicht zuletzt in der rasant gestiegenen durchschnittlichen Lebenserwartung der Bevölkerung zum Ausdruck komme.

„Schlüsselposition“ für Allgemeinmediziner
Anzustreben sei in dieser fragmentierten medizinischen Landschaft jedoch eine bessere Kommunikation und Koordination der verschiedenen Fachdisziplinen. An dieser Stelle könnten die Allgemeinmediziner eine Schlüsselposition einnehmen. So benötige man zunehmend medizinisch geschulte „Case-Manager“, die Patientinnen und Patienten nicht unbedingt mehr selbst versorgen, sondern als Lotsen im System dafür sorgen, dass allen Menschen die notwendigen Behandlungen zukomme. Dies dürfe jedoch nicht dazu führen, dass nur noch die Allgemeinmediziner für den Menschen zuständig seien und die Fachärzte lediglich für einzelne Organe: „Die sprechende Medizin, das Gespräch von Arzt und Patient, darf nicht allein in der Hausarztpraxis stattfinden.“

Ohnmacht, Angst und Sorge
Einen gleichermaßen fachlichen wie auch emotional berührenden Vortrag hielt die Bonner Professorin Dr. Cornelia Richter zum Thema „Ohnmacht, Angst und Sorge – klinische Belastungen aushalten“. Patienten erlebten in langen Klinikaufenthalten einen Ausnahmezustand, erklärte die Theologin. Kontrollverlust und die Abhängigkeit „bis in die intimsten Handgriffe der Körperpflege hinein“ seien mit diesen Aufenthalten verbunden und die Frage stehe im Raum „Wie sollte man aus dieser Situation je wieder heil herauskommen?“

Professorin Dr. Cornelia Richter
Das Diffuse beim Namen nennen
Richter wendete sich dem Moment der Diagnose zu, wenn ein Patient von einer unheilbaren oder mindestens schwerwiegenden Erkrankung erfahre: „Die erste Diagnose trägt zwar fast immer ein Schockmoment in sich, aber es dauert, bis sie wirklich begriffen ist.“ In dieser kleinen Zeitverzögerung liege die erste Chance, die klinischen Belastungen aushalten zu können. Gut ausgebildete Ärztinnen und Ärzte würden „hoffentlich vorsichtig und behutsam“ sagen, was Sache sei. „Schon dieses klare Aussprechen dessen, was der Fall ist, kann eine stärkende Wirkung haben“, betonte Richter.
Wenn es auch zunächst absurd erscheinen möge, bestehe doch die Kunst darin, „die Patienten diesem Schockzustand nicht schutzlos“ zu überlassen, denn: „Das Befürchtete ist oft diffus, es beunruhigt, ruft tief sitzende Ängste hervor und treibt einen Menschen um, weshalb es so ungeheuer wichtig ist, das Diffuse beim Namen zu nennen, die Angst in einen Begriff zu bannen.“ Der „Dämon“ verlöre seine Macht, sobald er bei seinem Namen gerufen werde. Richter erinnerte an zahlreiche Motive in biblischen Texten, in denen das Benennen des Bedrohlichen ähnlich wichtig sei, zum Beispiel Jakobs Kampf am Fluss Jabbok (Gen. 32, 23-33), an dessen Furcht vor dem feindlich gesinnten Bruder Esau, und an die Heilung eines Besessenen aus dem Land Gerasa, der offenbart habe „Mein Name ist Legion“ (Mk 5,1-29).

„Wie kann Gott das zulassen?“
Insgesamt sei die Erfahrung schwerer Krankheit ein „psychophysisches Widerfahrnis“, dem man sich zu stellen habe. Sei ein Unfall durch einen Treppensturz verursacht, könne sich die Wut noch auf die Treppe oder den Architekten richten, bemerkte Richter. In „besonderer Schärfe“ zeige sich das Problem bei Autoimmunerkrankungen und bei psychiatrischen Erkrankungen, „in denen sich nicht nur der eigene Körper, sondern auch das eigene Ich entfremden bis zur völligen Fragmentierung der Persönlichkeit“. Da sei es kein Wunder, wenn Menschen nach einem Gegenüber suchten, den sie anklagen könnten. Es sei ebenso kein Wunder, dass Menschen in einer solchen Situation die Theodizee-Frage stellten, die da laute „Wie kann Gott das zulassen?“
Diese Frage, die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, wiederum führe unweigerlich zu weitergehenden Fragen nach Schuld und Sühne, nach Urheber und gerechter Strafe. Werde dieser Fragenkatalog aufgerufen, so die Professorin, „wird es endgültig beklemmend“. Richter unterschied zwischen „abstrakter kognitiv-theoretischer Theodizee“ und „emotionaler, empathischer Theodizee“. Bei der ersten Variante gehe es um die verstandesmäßige Reflexion göttlicher Allmacht und Gnade, bei der zweiten Variante gehe es um „Gott in mir, in meinem eigenen Leben“, so wie schon Martin Luther gefragt habe, „wie Gott mir hier und jetzt gnädig sein kann“. Dieses „wie“ lasse sich keinesfalls kognitiv lösen, da mit der kognitiven Verstandeserkenntnis nicht zu klären sei, ob Gott „überhaupt straft oder nicht“.

Die Fragen aushalten und zuhören
Doch um eine mögliche Strafe Gottes gehe es nicht, betonte Richter, und spitzte den Gedanken der Theodizee-Frage noch einmal zu. „Es geht um das Getroffensein desjenigen Menschen, der sich gestraft fühlt“. Richter zog an dieser Stelle das Fazit: „Es kann deshalb auch nicht darum gehen, diese Vorstellung einfach als falsche Vorstellung abzutun, weil das demjenigen, der so fühlt, sogar noch die Würde des eigenen Gefühls nimmt. Sondern es geht darum, dieses Getroffensein mit ihr oder ihm auszuhalten und diesen Ausdruck gemeinsam weiter zu gestalten.“ Es gelte, „all dem gemeinsam neuen Sinn zu geben“.
Sie zog ein weiteres Resümee: Man müsse die Fragen aushalten, das Leiden aushalten, und „hören, was ist, und sagen, was ist“. Klinische Belastungen auszuhalten bedeute „die eine lustige Stunde gegen die 23 traurigen zu setzen, das eine Lachen gegen die vielen Tränen“. Wer schließlich nicht „gegen“ oder „trotz“ sondern „mit“ der Erkrankung lebe, der könne den „zutiefst christlichen Satz“ schon zu Lebzeiten verstehen: „Jeder Schritt in den Tod ist auch ein Schritt ins Leben“.

Text: Anselm Weyer/Angelika Knapic
Foto(s): Anselm Weyer