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Offener Brief des Vorsitzenden der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit an Joachim Kardinal Meisner

Sehr geehrter Kardinal Meisner,

die Achtung vor dem Leben ist der höchste Grundwert in unserer Gesellschaft und durch den Staat in der Verfassung verankert. Verstöße gegen diesen Wert müssen angeprangert und geahndet werden. Nach weit verbreiteter christlicher Überzeugung gilt Abtreibung als Missachtung dieses Werts; die offizielle katholische Kirche sieht Abtreibung als Mord an; diese Einstellung ist in Deutschland öffentlich respektierte soziale Realität.

Was aber hat diese Ansicht mit der Vernichtung der Juden Europas durch die Deutschen zu tun?

In Ihrer Dreikönigspredigt, die offenbar auf dem Buch von Papst Johannes Paul II. „Erinnerung und Identität“ fußt, werden Abtreibung und der Holocaust in einem Atemzug mit dem Bethlehemitischen Kindermord und anderen staatlich verübten Verbrechen genannt. Wenn Sie dies im Nachhinein als Missverständnis bezeichnen lassen, haftet dieser Erklärung der Hauch der Unglaubwürdigkeit an. Denn Sie hätten die Problematik bei der Ausarbeitung einer schriftlich vorliegenden Predigt erkennen können und müssen.

Zunächst: es ist eine gänzlich unzulässige Vermischung von Sachverhalten, wenn staatlich angeordneter Massenmord gleichgesetzt wird mit staatlich zugesicherter Straffreiheit für schwangere Frauen in Konfliktlagen.

Und ein Zweites: Der Holocaust gehört nicht in eine historische Linie mit anderen staatlich aktiv verübten Menschheitsverbrechen. Aufgrund einer menschenverachtenden Rassenideologie sozial und kulturell integrierte Teile der europäischen Bevölkerung auszurotten, ist ein weltweit und in der gesamten Menschheitsgeschichte beispielloses Verbrechen. Trotz zwischenzeitlich in vielen Teilen der Welt verübter Verbrechen gegen die Menschlichkeit und immer wieder begangener Völkermorde herrscht gesellschaftlicher Konsens über die Einzigartigkeit des Holocaust.

Dieser Konsens ist Grundlage deutscher Erinnerungskultur. Dieser Konsens ist auch die Basis des neuen jüdischen Lebens in unserem Land, einem Land, in dem die Nazis noch vor wenigen Jahrzehnten so viele Mittäter in allen Bereichen fanden, dass die Verfolgung und Vernichtung der Juden in einem erschreckenden Maße umfassend werden konnte und sich zu einem hochgradig organisierten, industriell betriebenen Völkermord ausweitete.

Dass der Zentralrat der Juden in Deutschland äußerst sensibel auf jedes Antasten dieses Konsenses reagiert, ist nur zu verständlich. Gerade in einer Zeit, in der jüdische Gemeinschaften hierzulande wieder zunehmender Bedrohung ausgesetzt sind, müssen wir unsere Einigkeit deutlich machen in der Erinnerungsarbeit und im Einsatz für eine gemeinsame Zukunft. Gerade die Repräsentanten der christlichen Kirchen, deren Vertreter sich während der Nazi-Zeit allzu willfährigen das System gestützt und – von rühmenswerten Ausnahmen abgesehen – keinen nennenswerten Widerstand geleistet haben, sollten alles vermeiden, was unsere jüdischen Freunde an der Dauerhaftigkeit diese Konsenses zweifeln lassen kann.

Als Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit drängt es mich, unseren jüdischen Mitgliedern und darüber hinaus allen Juden in Deutschland unsere andauernde Solidarität und brüderliche Verbundenheit auszudrücken.

Text: Dr. Jürgen Wilhelm
Foto(s): Kölnische Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V.