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„Nicht die Zahlen, sondern die Dynamik der Radikalisierung bereitet uns Sorge“

Eine aktuelle Themenstellung steht alljährlich im Fokus des Schulpolitischen Aschermittwochs, zu dem das Evangelische Schulreferat alle Schulleiterinnen und Schulleiter aus Köln und der Region einlädt. Stadtsuperintendent Rolf Domning freute sich, mit der deutschen muslimischen Religionspädagogin Lamya Kaddor eine dialogorientierte Referentin begrüßen zu dürfen. Als Autorin des „Buches „Zum Töten bereit“, sei sie eine Expertin, die das Thema der Radikalisierung Jugendlicher „von innen heraus“ betrachte.

Kaddor ist als Kind syrischer Eltern in Westfalen geboren, hat Zeit ihres Lebens in Deutschland gelebt, Islamwissenschaften studiert und ist sowohl in der arabischen als auch in der westlichen Welt zu Hause. Im Haus der Evangelischen Kirche referierte sie zur Frage „Warum Jugendliche in den Dschihad ziehen“.

Was steckt hinter der Radikalisierung?
„In Deutschland gibt es einer aktuellen Studie zufolge gerade einmal 1.100 Islamisten gegenüber 7.600 Linksextremisten und mehr als Zehntausend Rechtsextremisten“, sagte die Religionspädagogin. Dabei gäben die Zahlen selbst keinen Anlass zu großer Sorge, es gehe um die Hintergründe, warum Jugendliche aus Deutschland in den Dschihad ziehen.

„Die Vorfahren oder die Altvorderen“
Um den knapp 100 Zuhörenden aus Schule, Kirche und Politik diese zentrale Frage zu beantworten, beleuchtete Lamya Kaddor in ihrem Vortrag zunächst die Wurzeln und die Funktionsweise des Salafismus. Der Begriff bedeute im Arabischen „die Vorfahren oder die Altvorderen“. Maßgebend für die Glaubensauffassung der Salafisten seien nur die Taten und Auffassungen der ersten drei Generationen rechtschaffener Altvorderer nach Muhammed. Allein diese überlieferten die Grundlagen des Islams, die in der korrekten Befolgung von Koran und Sunna nach dem Verständnis der Vorfahren bestünden.

Drei Formen des Salafismus
„Der Salafismus unterscheidet drei Formen“, so Kaddor, „den puristischen, den politischen und den jihadistischen Salafismus“. Die erste Form bereite am wenigsten Sorge, denn die Glaubensanhänger dieser Gruppe seien zwar ausgesprochen traditionsverhaftet, jedoch unpolitisch. Demgegenüber trete die die dritte Gruppe radikal auf und wolle die Errichtung eines islamischen Gottesstaates offensiv mit Gewalt vorantreiben. Am gefährlichsten sei jedoch die zweite Gruppe. Deren Anhänger betrieben mit Da`wa, dem Ruf zum Islam, geschickte Propaganda und würden mit ihren gewaltverherrlichenden Botschaften konkret deutsche Jugendliche für den Kampf in Syrien anwerben. Kaddor betonte, dass die sogenannten „Kämpfer“ aus allen Gesellschaftsschichten stammen.

Unwissen über Islam ist verbreitet
„Viele Muslime wissen gar nicht, wie der Islam aufgebaut ist“, sagte Lamya Kaddor. Das erfahre sie immer wieder in Gesprächen und im Dialog mit ihren Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht. Schritt für Schritt erläuterte die Islamwissenschaftlerin deshalb dem Publikum die Grundlagen von Koran und Sunna. So gebe es unter den 140 Suren mit 60 Abteilungen und 30 Teilen im Koran eindeutige und mehrdeutige Verse. „Gerade die mehrdeutigen Verse bergen die Gefahr, dass Fundamentalisten ihre eigene Auslegung als die richtige verkünden und damit ihr radikales Handeln begründen.“ Die Sunna als weiteres Referenzwerk des Islams beinhalte Erzählungen über die Lebensgewohnheiten und das Wirken des Propheten Muhammed im 7. Jahrhundert. Der Name Muhammed bedeute „Der Gepriesene“.

Dschihad-Romantik
Nach den allgemeinen Ausführungen zu Erscheinungsformen und Begrifflichkeiten erklärte Lamya Kaddor, welche Jugendlichen Opfer der Radikalisierung seien. „Salafisten gewinnen besonders leicht labile junge Menschen, als Kämpfer nach Syrien zu gehen.“ Es gebe keine langen Erklärungen, sondern „einfache und klaren Botschaften“. Das Versprechen von Macht und Respekt, Teil einer starken Gruppe zu sein, die sich um Probleme der Jugendlichen kümmere, Orientierung über klare Ziele und die Vermittlung eines Zusammenhalts gegen innere und äußere Bedrohungen würden in der Pubertät genau den richtigen Nerv treffen. Vergleichbar sei die Hinwendung Jugendlicher zum Salafismus mit der Jugendprotestbewegung, wie sie die vorherige Generation bereits zu Zeiten der Roten Armee Fraktion erlebt habe.

Weniger Aufmerksamkeit, mehr Aufklärung
Superintendent Markus Zimmermann dankte Lamya Kaddor für ihre anschaulichen Ausführungen und eröffnete die Fragerunde für die anwesenden Schulleiterinnen und Schulleiter. Einer der Teilnehmer berichtete über einen auffälligen Schüler an seiner Schule, der mittlerweile unter Beobachtung des Staatsschutzes stehe. Lamya Kaddor riet, der Sache nicht zu viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, um den Schüler nicht zu heroisieren. Stattdessen sprach sie sich für Aufklärung über den Salafismus, die Methoden der Anwerbenden und die Folgen der Radikalisierung aus.

Text: Anne Siebertz
Foto(s): Anne Siebertz