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Neue Sozialinitiative: echter Anstoß oder angepasstes Thesenpapier?

„Lobby für Gerechtigkeit !? – Der Beitrag der Kirchen zur Debatte um soziale Gerechtigkeit“ so lautete der Titel eines Vortrages von Professor Dr. Franz Segbers, Theologe und Sozialethiker an der Universität Marburg, im evangelischen Tersteegenhaus in Köln-Klettenberg zu dem das „Evangelische Forum Sozialethik“ des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region und der ökumenische Arbeitskreis „Abendgespräch zur Sache“ in Kooperation mit der Melanchthon-Akademie eingeladen hatten.

"Grundlegende Transformation der Wirtschafts- und Lebensstile"
Deutschland sei eines der reichsten Länder der Erde. Aber die Kluft zwischen Arm und Reich nehme seit Jahren stetig zu. Lohnarbeit werde unsicher und die globale Klimaerwärmung stelle die gesamte Menschheit vor enorme Herausforderungen. „Wir leben in einer dramatischen sozialen, ökologischen und Nachhaltigkeitskrise. Welche Antwort geben die Kirchen auf diese dramatische Situation?“, fragte Dr. Segbers zu Beginn seines Vortrages. Darin unterzog er den Inhalt der im Februar dieses Jahres vorgestellten „Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung“ einer theologisch-sozialethisch fundierten Analyse. Unter dem Titel „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ fordern die beiden Kirchen mit ihrer neuen „Sozialinitiative“ angesichts der Herausforderungen von Globalisierung, demographischem Wandel und zunehmender sozialer Ungleichgewichte eine „weltweit greifende grundlegende Transformation der Wirtschafts- und Lebensstile, um auch für kommende Generationen eine hohe Lebensqualität zu erhalten“. Mit dem zehn Thesen umfassenden Dokument wollen sie eine breite gesellschaftliche Debatte für eine erneuerte und gerechtere Wirtschafts- und Sozialordnung anstoßen.

Abschlussveranstaltung am 16. Juni in München
„Um das neue ökumenische Sozialwort haben die Kirchenspitzen lange hinter verschlossenen Türen gerungen. Jetzt liest es sich wie das kirchliche Begleitheft zur Großen Koalition“, kritisiert Segbers das neue Sozialwort. In der Klarheit der Analyse und in der Beschreibung von Konsequenzen bliebe es deutlich hinter dem gemeinsamen Wort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ von 1997 zurück. Damals sei das Sozialwort nach einem ausführlichen Beratungsprozess von über drei Jahren erstellt und öffentlich beraten worden. „Jetzt aber geben sie einen kurzen Zeitraum von drei Monaten. Bereits am 16. Juni 2014 soll in München eine Abschlussveranstaltung stattfinden, die den Prozess beendet“, so Segbers.

Drei zentrale Stärken des Sozialpapiers
Allerdings sieht Segbers in der Forderung der Kirchen, dass zwischen Ethik und Volkswirtschaftslehre kein Widerspruch bestehen dürfe und auch die Interessen von Benachteiligten in politisch-öffentlichen Debatten einzubringen seien sowie in ihrer Kritik am Finanzkapitalismus der Banken auch drei zentrale Stärken des Sozialpapiers. Zwar benennen die Kirchen die Herausforderungen und Krisen unserer Zeit und leiteten davon, ausgehend vom Gebot der Nächstenliebe, ihre zehn Thesen ab, doch sorgten sie damit vor allem für Verwirrung, so Segbers. „In dem Dokument sprechen die Kirchen von einer erneuerten Wirtschafts- und Sozialordnung, ja sogar von einer weltweit greifenden grundlegenden Transformation der Wirtschafts- und Lebensstile, und ergreifen doch nur Partei für die politischen und ökonomischen Eliten mit ihrer Agenda-Reform“, so die Kritik des Sozialethikers Segbers.

"Das deutsche Kirchenwort ist provinziell"
Mit ihrem Ja zur Agendapolitik, dem ungebrochenen Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft und ihrer Akzeptanz eines neoliberalen Sozialstaats spiegle das Kirchenpapier das, was auch die große Regierungskoalition längst auf ihrer Agenda hätte. „Angesichts der Debatten, die in der Ökumene geführt werden, ist das deutsche Kirchenwort provinziell“, meint Segbers. So hätte die Weltversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen im November 2013 im südkoreanischen Busan den Beschluss zu einer „Ökonomie des Lebens“ verabschiedet und darin gefordert, das derzeit vorherrschende globale Entwicklungsmodell für die Zukunft radikal umzuwandeln und Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zur treibenden Kraft für die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Erde zu machen. In seinem Schreiben „Freude des Evangeliums“ kritisiere auch Papst Franziskus ein nur auf Wirtschaftswachstum und Effizienz des Marktes ausgerichtetes Wirtschaftsmodell der Ausschließung und der sozialen Ungleichheit. „Es gibt also eine große Ökumene, die einen radikalen Wandel einfordert. Demgegenüber sind die Kirchenleitungen in Deutschland mit ihrem Diskussionspapier nicht nur provinziell, sondern sie verbreiten auch die irrige Anschauung, dass die Wirtschaft in Deutschland das Attribut `sozial´ verdiene“, so Segbers.

Die beiden Großkirchen wagen keine klare Richtungsansage
Die Kirchen der Ökumene und der Papst wollten keine bessere Wirtschaftstheorie ausbreiten, erklärt der Sozialethiker, sondern argumentierten aus der Perspektive der Ausgeschlossenen und arm Gemachten. Ganz anders die Kirchen in Deutschland. Sie hätten mit dem Hinweis auf die Soziale Marktwirtschaft die tatsächliche Lage der Verlierer und Opfer nicht im Blick. Vielmehr hielten sie es mit den wirtschaftlich und politisch Mächtigen, und blickten nicht mit den Augen der Benachteiligten und Schwachen auf die Verhältnisse, meint Segbers. „Die beiden Großkirchen wagen keine klare Richtungsansage, in der die ethischen, politischen und strukturellen Grundlagen einer lebensdienlichen und zukunftsfähigen Ökonomie genannt werden“. Vor allem sei das Papier aber ein Schlag ins Gesicht der Ökumene. „Man wird der kirchlichen Sozialinitiative in vielen Punkten sicherlich zustimmen können. Dies ergibt sich schon daraus, dass sie so allgemein gehalten ist. Hierin und in der mangelnden Tiefenschärfe besteht ihre große Schwäche“, zieht Segbers am Ende ein ernüchterndes Fazit. Letztlich sei das Papier „ein Anstoß, der nicht anstößig sein will.“

Text: Dr. Dieter Brühl
Foto(s): Dr. Dieter Brühl