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Musikalische Reformation

„So predigt Gott das Evangelium auch durch die Musik“, soll Martin Luther gesagt haben. Die schöne Kunst diente ihm als Kernelement der Verkündigung, und so brachte er die Reformation auch in seinen Chorälen unters Volk. Viele von ihnen griff 200 Jahre später ein anderer großer Protestant auf: Johann Sebastian Bach, der Luthers Liedgut als Grundlage für Kirchenkantaten verwendete. Zum Beginn des Reformations-Jubiläumsjahres sind seine meisterhaften Lutherkantaten auf CD erschienen, eingespielt vom Chorus Musicus Köln und Das Neue Orchester unter der Leitung von Kirchenmusikdirektor Christoph Spering.

200 Kirchenkantaten schrieb Johann Sebastian Bach und hinterließ der Nachwelt damit musikalisch wie theologisch einen wahren Schatz. Für seine 12 Lutherkantaten benutzte er in der Eingangs- und Schlussstrophe den wörtlichen Luthertext, in den Mittelsätzen vertonte er zusätzliche Verse von heute unbekannten Autoren seiner Zeit. Kantor Spering erläutert: „Wenn man jetzt sagen würde, das ist der Versuch, die Lutherchoräle zu dramatisieren, wäre das nicht ganz richtig. Man müsste sagen, es ist der Versuch, sie in eine zeitgemäße Erzählform zu bringen.“ Mit theologischen Deutungen hält sich der Dirigent jedoch lieber zurück und meint: „Die Texte, Luthertexte überhaupt, sind seminarwürdig – damit muss sich jeder selbst beschäftigen. Das Entscheidende ist, dass Bach für uns der Anfang aller Musik ist, und für ihn hat der Reformator eine große Rolle gespielt: Zeit seines Lebens blieb er der lutherischen Orthodoxie verbunden und das führt natürlich zu sehr spannenden Ergebnissen.“

CD-Produktion ist ein gelungenes Gemeinschaftsprojekt
Angestoßen wurde die Aufnahme sämtlicher Bach’scher Lutherkantaten im Jahr 2014, als Spering mit seinen Ensembles die Kantate „Einʼ feste Burg ist unser Gott“ bei der Reformationsfeier in der Trinitatiskirche aufführte. „Daraufhin haben wir mit Hilfe aller Kölner Superintendenten die Gesamtaufnahme ins Rollen gebracht“, erinnert sich der Spezialist für Alte Musik. Um das ambitionierte Projekt zu ermöglichen, haben sich die vier Kölner Kirchenkreise, der Kirchenverband und die Evangelische Kirche im Rheinland zusammengeschlossen. Weitere Förderer waren das Landesministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport sowie das Bachhaus Eisenach, das zusätzlich eine Ausstellung zum Thema „Die Entstehung einer Kantate“ plant. Besonders dankbar sind die Musiker außerdem für die einmalige Gastfreundlichkeit der Melanchthon-Kirche in Köln-Zollstock, in der die Aufnahmen entstanden sind.

„Du kannst Bach nicht neu erfinden!“
Bach neu zu erfinden sei nicht möglich, aber ihm näherzukommen, darum hat sich Spering bemüht. „Ich muss ja nicht rechthaben mit meinem Ansatz, aber man muss doch wenigstens einmal darüber nachdenken und es ausprobieren“, findet er. Mit der Neuaufnahme macht er sich auf die Suche nach einer schlüssigen, vom Komponisten intendierten Spielweise und nimmt sich dafür neben dem Notentext die in zeitgenössischen Quellen überlieferten Spielvorschriften als Leitlinie – von zusätzlichen Probenabsprachen und dem subjektiven ästhetischen Empfinden der Ausführenden will er sich bewusst distanzieren. Spering erläutert: „Was wir über die damalige Aufführungspraxis wissen, ist, dass die Musiker keinen Bleistift am Pult hatten. Gespielt wurde nach den vorliegenden Noten und nach vier oder fünf bekannten Regeln." Sein Credo bei der Interpretation der Bach’schen Kantaten lautet daher: „Keine Norm – immer lebendig, aber nie willkürlich.“ Als Ergebnis tritt jede Kantate als stimmiges Ganzes hervor: mit einheitlich kurz oder lang ausgeführtem Generalbass in den Secco-Rezitativen und ausbalancierten Temporelationen zwischen Chören und Arien, die sich aus einem durchgehenden Pulsschlag ableiten.

Das Dogma: Es gibt kein Dogma
Für die Interpretation der Bachkantaten gebe es, so Spering, kein Dogma. Die Quellenlage zur Besetzung der Kantaten sei uneindeutig, doch man müsse davon ausgehen, dass durch die wechselnden Umstände, unter denen Bach seine Musik aufführte, keinesfalls jedes Mal die gleiche Stärke an Musikern auftrat. Zwar forderte er in seiner 1730 verfassten Schrift „Kurtzer, iedoch höchstnöthiger Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music“ als Idealbesetzung 12 bis 16 Sänger, vermutlich hatte er diese jedoch nicht immer in der gewünschten Qualität zur Verfügung. Daher hat Spering für jedes Werk individuell die passendste Herangehensweise ausgearbeitet und einige Kantaten in solistischer Besetzung, andere in Kammerchorstärke aufgenommen. Überhaupt stammen die Lutherkantaten aus unterschiedlichen Schaffensperioden des barocken Komponisten und sind sehr unterschiedlich gestaltet; beispielsweise entsprechen die frühen Kantaten eher noch der Form des Choralkon-zerts.

Die Orgel in den Vordergrund gerückt
Bei der Instrumentalbesetzung erhält in der Neueinspielung die Orgel eine stärkere klangliche Präsenz als in den meisten Vergleichsaufnahmen; in einigen Kantaten wird sie noch um ein Cembalo ergänzt. Auch hier gilt für Spering: kein Dogma! Die starke klangliche Präsenz der Orgel entspreche Bachs Selbstverständnis, demnach er in erster Linie Organist war. „Die Truhenorgel für unsere Aufnahme hat uns die Mülheimer Gemeinde zur Verfügung gestellt. Mit einem Prinzipal 4‘ ist sie bewusst etwas größer disponiert als andere und außerdem die beste, die ich bisher kenne“, freut sich der Dirigent.

Kantatenzyklus für das ganze Kirchenjahr
Die 12 Lutherkantaten (sowie als kleine Zugabe die Kantate BWV 36 „Schwingt freudig euch empor“, die vier Choralsätze enthält) sind nach dem Verlauf des Kirchenjahres angeordnet. Dabei bilden die beiden Kantaten über „Nun komm, der Heiden Heiland“ – laut Christoph Spering „vermutlich Bachs Lieblingslutherchoral“ – Ausgangs- und Zielpunkt des Zyklus‘. Zu den vier CDs im Schuber gibt es jeweils ein informatives Booklet, das über die Werke informiert und den Interpretationsansatz nachvollziehbar macht.

Für das Jahr 2017 sind Aufführungen der Lutherkantaten durch den Chorus Musicus Köln, Das Neue Orchester und Christoph Spering in Kölner Raum geplant. Die Termine sind auf der Homepage zu finden.

Text: Kristina Pott
Foto(s): Kristina Pott