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Mit Paul Böhms Entwurf die Gnadenkirche zukunftsfähig machen

Dort, wo sonst der Altar steht, ist es leer. Der Chorbereich der evangelischen Gnadenkirche in Bergisch Gladbach ist an diesem besonderen Sonntag frei geräumt. Bis auf das große Kreuz an der Stirnwand sowie eine Schale mit Kerzen plus Blumenvase auf dem schwarzweißen Schachbrett-Boden lenkt die Augen nichts ab.

Ein Raum der Erwartung, der Ideen ist entstanden. Und diese Anmutung strahlt in den vollbesetzten klassizistischen Kirchenraum aus, in dem der ungewohnte Anblick die Neugier der Besuchenden schürt: Wer wird nach dem üblichen 10-Uhr-Gottesdienst als Sieger des Architektenwettbewerbs hervorgehen? Welcher Entwurf hat das Zeug dazu, das Innere des denkmalgeschützten, 1777 eingeweihten Gotteshauses zukunftsfähig zu machen? Applaus brandet auf, als Gerhard Niebuhr, Vorsitzender des Kirchbauvereins, die Urkunde dem Preisträger überreicht: Es ist Professor Paul Böhm aus Köln.

Intimität des Sakralraums
„An Ihrem Entwurf haben uns vor allem die Öffnung der Decke des Kirchenraumes und die Platzierung des Altars in der Mitte des Baus mit der entsprechend geänderten Bestuhlung beeindruckt“, heißt es in der Begründung des Kirchbauvereins, der den Wettbewerb ausgelobt hatte. „Wir glauben, dass das Gemeinsame und das Verbindende unserer Gemeinde auf diese Weise sehr viel besser zum Ausdruck gebracht werden kann und zugleich die Intimität des Sakralraums verstärkt wird.“

Chor nicht sichtbar
Gerhard Niebuhr steht zwischen den ausgestellten Teilnehmer-Entwürfen. Kurz hat er daran erinnert, wie es zum Wettbewerb kam: 2012 sei durch die Innenraum-Renovierung der Gnadenkirche offenbar geworden, „dass die Prinzipalstücke verbesserungswürdig sind“. Zudem empfanden Gemeindeglieder die wuchtige Empore, die erst in den 50er-Jahren eingebaut worden ist, zunehmend als störend. Wer den dort oben singenden Chor sehen wolle, müsse sich verrenken und sehe trotzdem nichts, schildert Gemeindeglied Klaus-Martin Menkhoff die Misere. Nachdem Studenten der Fachhochschule Köln im April 2013 „eine Fülle von Anregungen“ für eine Umgestaltung des Kircheninnenraums vorgelegt hatten, beschlossen Gnadenkirche-Pfarrer Thomas Werner und der engagierte Kirchbauverein, einen professionellen Architektenwettbewerb durchzuführen. Vier angefragte Büros nahmen teil: aus Bergisch Gladbach die Architekten Rolf Sam sowie Franz und Joachim Voigtländer, aus Madrid das Büro Bieniussa/Martínez und aus Köln Professor Paul Böhm. Ihnen allen wird von Herzen gedankt und ein kleines Dankeschön überreicht.

Altar aus der Nische herausnehmen
Warum eine Veränderung des Kirchenraums, warum ein Wettbewerb? „Muss das denn sein? Die Kirche ist ja funktionsfähig!“, nimmt Gerhard Niebuhr die Einwände möglicher Skeptiker vorweg – und gibt sogleich selbst die Antwort: „Der traditionelle Innenraum hat dem Anspruch, dem wir uns für die Zukunft stellen wollen, nicht mehr genügt.“ Gerade vor dem Hintergrund sinkender Kirchenmitglieder sei eine Attraktivitätssteigerung wichtig. So sei es zeitgemäßer, den Altar aus der Nische heraus und mehr in den Innenraum zu rücken und durch eine flexiblere Bestuhlung die Kirche „den wechselnden Veranstaltungen besser anzupassen“, beispielsweise bei Konzerten, Lesungen und Ausstellungen. Dabei bleibe es „ganz wichtig, dass wir den sakralen Charakter erhalten“.
Wettbewerbssieger Paul Böhm unterstreicht, dass es sinnvoll sei, mit Geld nicht nur Not zu lindern, sondern auch das eigene Umfeld attraktiver zu gestalten: „Wir haben auch eine Verpflichtung unserer Gesellschaft und unserer Kultur gegenüber.“ Die eigene Kultur, die sich „auch in der gebauten Umwelt“ widerspiegle, müsse anerkannt werden, um darüber hinaus wirken zu können. „Man darf das eine nicht lassen, ohne das andere zu tun.“

Charakter von Sparkassenhallen
Paul Böhm, in dritter Familiengeneration mit Kirchen-Architektur befasst, skizziert, wie sich die Gotteshäuser in den letzten Jahrzehnten gewandelt haben: Vor dem Zweiten Weltkrieg sei eine Kirche „in erster Linie ein spiritueller Raum gewesen, der Transzendenz ausstrahlte“. In den 60er- und 70er-Jahren habe es „plötzlich einen Knick“ gegeben: „Kirchen haben den Charakter von Sparkassenhallen und Mehrzweckhallen angenommen.“ Böhm betont, dass eine Kirche trotz aller Multifunktionsnutzungen durch Konzerte, Theater oder anderes „in erster Linie ein Sakralraum“ sein müsse, wenn sie zukunftsfähig sein wolle.

Entwurf von Paul Böhm für den Innenraum der Gnadenkirche

Vor diesem Hintergrund erläutert der Architekt der gespannt lauschenden Gemeinde sein Konzept der Innenraum-Veränderung für die Gnadenkirche. Es hat zwei Leitgedanken: sakrale Überhöhung des Raums und helle Belichtung. Um beides zu erreichen, möchte Böhm das Gebäude durch verschiedene Maßnahmen entschlacken und weiten:

Erstens: Die 50er-Jahre-Orgelempore soll nach Böhms Vorstellung abgerissen werden, die Orgel oberhalb des Eingangs an die Wand montiert werden und der Spieltisch im Gesichtsfeld der Gottesdienstbesucher stehen. Das hätte auch den Vorteil, erläutert Böhm, dass Organisten mit der Gemeinde in Beziehung treten, sie beispielsweise zum Mitsingen auffordern könnten.

Zweitens: Die Decke soll nach oben geöffnet werden. Böhm kletterte auf den Dachboden, um sich von der (finanziellen) Machbarkeit dieser Idee zu überzeugen. In das leicht gestaffelte Deckenrund würden verdeckte Leuchtkörper eingebaut, die die Decke anstrahlen und für eine indirekte, helle Ausleuchtung der Kirche sorgen. „Der Raum muss hell sein, man muss kleine Schriften lesen können“, führt der Architekt einen praktischen Aspekt ins Feld. Durch diesen Decken-Kunstkniff entfielen unschöne Lampenstrippen von der Decke – allerdings auch der Kronleuchter, was etlichen Zuhörern spontan missfiel.

Drittens: Durch eine ebenerdige, stufenlose Anbindung der derzeitigen Altarnische solle „der Chorraum Teil des Kirchenraums“ werden und diesen optisch vergrößern. Der Entwurf sieht die Nische als Standort des Taufbeckens vor, sodass ein kleines Baptisterium entstünde. Aber auch der Chor könnte dort bei Auftritten stehen, auch mal der Altar.

Viertens: Als idealen Standort für Altar und Kanzel/Ambo hat Böhm „über die Geometrie des Raumes“ das Zentrum des ursprünglichen Oktogons ermittelt, das bis zur Erweiterung 1899 den Kirchen-Grundriss bildete. Als Sitzordnung favorisiert der Architekt eine leicht kreisförmige Form, die den Altar umschließt. Statt der bisherigen Holzbänke schlägt er Stühle vor, um die multifunktionale Nutzung zu erleichtern – ohne beschwerliches Herumwuchten der wuchtigen Bänke.

Fünftens: Für Altar, Kanzel/Ambo und Taufbecken schlägt Böhm als Material Holz vor, das „als Kontrast zum Boden und den Wänden eine warme Atmosphäre“ befördere. Alle Prinzipalstücke sollen zwar fest auf dem Boden stehen, aber durch integrierte Rollen je nach Raumnutzung leicht zu verschieben sein.

Dikussion der Pläne
Die Anwesenden diskutieren die Pläne mit dem Professor in der Kirche und später bei Hefebrezel und Kaffee im Gemeindesaal „Engel am Dom“. Die Decken-Öffnung fasziniert die meisten, das Verschwinden der Empore scheint alle zu begeistern. Während Pfarrer Klaus Schneider aus Bergisch Gladbach-Hand interessiert die Entwurfszeichnungen studiert, bekennt Kirchenmusikerin Susanne Rohland-Stahlke, wie sehr sie die Idee des Orgelspieltischs im Kirchenraum freut: „Da würde ich mich mehr als Teil der Gemeinde fühlen.“

Bänke versus Stühle
Am meisten kontrovers wird die Frage Bänke versus Stühle diskutiert. „Eine Kirche ohne Bänke geht ja gar nicht“, hätten seine Konfirmanden spontan gemeint, erzählt Pfarrer Thomas Werner. Auch Hans Wolfgang Zanders gesteht, mit diesem Punkt tue er sich schwer, da Bänke mehr Stabilität und Gewicht verströmten. Doch Böhm betont den Vorteil einer leicht wechselbaren Sitzplatzzahl und setzt hinzu: „Auch eine Kirche mit wenigen Stühlen oder gar keinen Stühlen ist eine besondere Erfahrung.“ Die Frage Bänke oder Stühle sei letztlich zweitrangig, meint Baukirchmeister Ekkehard Schmidt: „Es geht darum, die Kirche für die nächsten 20 Jahre zukunftsfähig zu machen.“

Ein frommer Wunsch
Ob denn ein modern eingerichtetes Gotteshaus tatsächlich „mehr Leute in die Kirche bringt“, möchte jemand wissen. Der Architekt antwortet ehrlich: „Es ist zunächst ein frommer Wunsch.“ Dann, während er Pfarrer Thomas Werner auf die Schulter klopft, setzt er hinzu: „Es liegt meistens an solchen Menschen. Aber wenn die Atmosphäre klasse ist, geht man gerne rein.“

Größeres Blickfeld in den Raum
400.000 Euro würde eine „de luxe“-Ausführung der Umgestaltung kosten. Der Kirchbauverein, der schon manches Bauprojekt möglich machte, will den Betrag sammeln. Doch geändert werde nur dann etwas, „wenn die Gemeinde dahintersteht“, versichert Gerhard Niebuhr. Pfarrer Werner ergänzt: „Es könnte sein, dass wir in mehreren Schritten vorgehen.“ Eine Veränderung ist bereits sichtbar und hat viel positives Echo gefunden: Die Bänke stehen statt quer jetzt schräg im Kirchenschiff, wodurch sich für Gottesdienstbesucher ein größeres Blickfeld in den Raum und – ganz im Böhmschen Sinne – eine kommunikativere Struktur ergibt.

Text: Ute Glaser
Foto(s): Ute Glaser