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Meine Zunge soll reden von deiner Gerechtigkeit

„Ich hatte einen Traum,
einen schrecklichen Traum:
Mein Volk war ausgelöscht,
ausgelöscht.
Ich wache auf mit einem Schrei.
Mein Traum war Wirklichkeit.
So ist es wirklich gekommen.
So ist es mir wirklich widerfahren“.
(Jizchak Katznelson, 1944)

Mit diesem Gedicht aus der Feder des jüdischen Dichters Jizchak Katznelson aus dem Frühjahr 1944 erinnerte der Kölner Pfarrer Dr. Martin Bock in seiner Predigt am 9. November 2017 im Gemeindezentrum der Freien evangelischen Gemeinde Essen-Mitte an den Schrecken der Reichspogromnacht im November 1938. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Essen (ACK) hatte zusammen mit der Essener Gemeinde den Leiter der Melanchthon-Akademie zu dieser Gedenkveranstaltung ins Ruhrgebiet eingeladen. Dr. Bock engagiert sich unter anderem im jüdisch-christlichen Dialog der Evangelischen Kirche im Rheinland.

"Mit unserem Gottesdienst wenden wir uns gegen das Vergessen“, erklärte die ACK zu dem Gedenkgottesdienst. „Die Erinnerung an diese schreckliche Geschichte in unseliger Zeit ist für uns Mahnung und Auftrag.“ Auch heute gebe es Beispiele für die Stigmatisierung und Ausgrenzung von Minderheiten. „Nur wenn wir uns an die damaligen unseligen Ereignisse und die während des Zweiten Weltkriegs folgende Ermordung der Juden erinnern, kann es uns gelingen, das friedliche Zusammenleben der Menschen verlässlich und dauerhaft auf eine sichere Grundlage zu stellen.“

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hatten Truppen der SA und Angehörige der SS gewalttätige Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung organisiert. Sie setzten mehrere hundert Synagogen in Brand, mehr als 8.000 jüdische Geschäfte wurden zerstört, außerdem verwüsteten sie zahllose Wohnungen. Rund 100 Menschen jüdischer Herkunft wurden getötet. In den Tagen nach der Reichspogromnacht wurden tausende jüdische Männer festgenommen und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Die nationalsozialistische Führung hatte die antisemitischen Angriffe und die Verfolgung jüdischer Bürgerinnen und Bürger organisiert und seit der "Machtergreifung" Hitlers im Jahr 1933 systematisch vorangetrieben.

Dr. Martin Bock ging in seiner Predigt weiter auf das „Lied vom ermordeten jüdischen Volk“ des jüdischen Dichters Jizchak Katznelson ein. Das Gedicht beschreibt den schrecklichen Traum von der Vernichtung des ganzen jüdischen Volkes. „Der Alptraum ist Wirklichkeit geworden“, sagte Dr. Bock. Aus dem Schluss von Psalm 35 „Meine Zunge soll reden von deiner Gerechtigkeit und dich täglich preisen“ leitet er ab, dass die Menschen heute nicht beim Alptraum stehen bleiben sollen, sondern es als ein göttliches Gebot ansehen und seine Gerechtigkeit dagegen, wenn es sein muss, ins Spiel bringen sollen. Dann zog Dr. Bock eine Parallele zu Martin Luther King, der im August 1963 seine Sicht auf Gottes Gerechtigkeit so ausdrückte: „Ich habe einen Traum …“. Martin Luther King war aber nicht allein, er hatte zwei rabbinische Freunde, Joachim Prinz und Abraham Josua Heschel, an seiner Seite. Keine fünf Jahre später, im April 1968, bezahlte Martin Luther King für seinen Traum-Gesang mit dem Leben.

Susannah Heschel, die Tochter eines der beiden Rabbiner, erzählte vor wenigen Wochen die Geschichte ihrer Familie und ihres träumenden Vaters. Sie berichtete darin, wie sie mit einem Horror vor dem Wort „Deportation“ aufgewachsen ist, weil alle Erwachsenen um sie herum jemanden aus der Familie verloren hatten. Alle waren Flüchtling oder Überlebender gewesen. Heute lebt Susannah Heschel in den USA und kritisiert, dass auch dort wieder Menschen unter der aktuellen Regierung ausgewiesen werden sollen. Damit verankerte Dr. Bock seine Predigt in der aktuellen politischen Lage in den USA und zog auch einen Vergleich zu populistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Tendenzen in der deutschen Politik. Und genau wie damals Martin Luther King zusammen mit seinen jüdischen Freunden auf die Straße ging, so ermutigte der Text aus Sicht von Dr. Bock auch Christen und Juden heute gemeinsam zusammenzustehen und die Worte von Martin Luther King „Ich habe einen Traum …“ nicht aufzugeben.

Dr. Martin Bock wird die Predigt zur Erinnerung an die Reichspogromnacht noch einmal am kommenden Sonntag, 12.11.2017 um 18 Uhr, in einem Gottesdienst in der Antoniterkirche, Schildergasse 57, 50667 Köln, halten.

Text: APK
Foto(s): copyright: RuhrMuseum / Sammlung Stadtbildstelle Essen