„Erste Hilfe für die Seele“ steht auf dem lilafarbenen Bus der Stiftung Notfallseelsorge. Mit dem Fahrzeug ist das Team, dessen Einsätze in Köln, dem Rhein-Erft- und dem Rheinisch-Bergischen-Kreis Pfarrer Holger Reiprich koordiniert, allerdings selten unterwegs. Seine Jacke mit der Aufschrift „Notfallseelsorge“ in derselben auffälligen Farbe deponiert Reiprich wie die anderen Helfer in dem Regionalverbund im Privatauto. Wer zu Menschen in Ausnahmesituationen unterwegs ist, will keine Neugier Dritter wecken. Alle Aufmerksamkeit soll dem Menschen in Not gelten.
„Formen und Folgen von Gewalt“ war das zentrale Thema beim 17. Bundeskongress Notfallseelsorge und Krisenintervention, an dem drei Tage lang rund 500 haupt- und ehrenamtliche Helferinnen und Helfer teilnahmen. Vertieft wurde es in Workshops und Vorträgen. „Gewalt und Trauma – Hirnphysiologische Wirkungen von traumatischen Erlebnissen“ oder „Folgen von Gewalttaten – was brauchen Betroffene?“ waren die Vorträge überschrieben. Zu dem Kongress eingeladen hatten die Evangelische Kirche im Rheinland, das Erzbistum Köln und die Konferenz Evangelische Notfallseelsorge in der Evangelischen Kirche in Deutschland (KEN).
Viel Kraft und Menschenliebe nötig
Die Tagung im Bezirksrathaus Porz eröffnete NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft als Schirmherrin. Im Anschluss daran bedankte sich Markus Zimmermann, Stellvertretender Stadtsuperintendent des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region, in seinem Grußwort mit den Worten: „Ihr Dienst an der Gesellschaft und im Auftrag unserer Kirchen ist sehr wertvoll und unverzichtbar. Und ich weiß, wieviel Kraft und Menschenliebe dazu nötig sind.“ Dann sprach er die Schwierigkeit an, den Verbund der Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger aufrecht zu erhalten. Durch Kürzungen von Pfarrstellen und Gemeindefusionen würde die Arbeitsbelastung Einzelner dramatisch ansteigen, so Zimmermann, der die Gelegenheit nutzte, festzustellen „dass wir Strukturen schaffen müssen, in denen die Notfallseelsorge auch zukünftig ihren festen Platz haben wird“. Nicht nur, weil sie gesellschaftlich eine große Anerkennung genieße, sondern weil es sich bei ihr um eine „Kernaufgabe unseres Tuns und Handelns als Christinnen und Christen“ handele.
Minuten, die Leben veränderten
„Folgen von Gewalttaten – was brauchen Betroffene?“, fragte der Pressesprecher der Evangelischen Kirche im Rheinland, Jens Peter Iven, seine Interviewgäste, die durch ein trauriges Ereignis Schlagzeilen gemacht haben. „Am 26. April 2002 haben neun Minuten das Leben von 550 Schülern und 50 Lehrern verändert“, erzählte Christiane Alt. Sie war damals Rektorin des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt, an dem der erste Amoklauf in der Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands 16 Opfer forderte. Stundenlang war sie mit Lehrern und Schülern in dem Gymnasium eingeschlossen. Als sie das Gebäude verlassen konnten, mussten die Jugendlichen vorbei an den unbedeckten Toten. „Wir schützten sie mit unseren Körpern vor dem Anblick und schützten gleichzeitig die Toten vor ihren Blicken“, erzählte die Rektorin.
Gewaltopfer brauchen klare Anweisungen
„Ohne die Kompetenz und die Einsatzbereitschaft der Notfallseelsorge hätten wir es nicht geschafft, nach zwei Wochen zu einem normalen Betrieb zurückzukehren“, sagte die Personalchefin des weltweiten Multi-Technologieunternehmens 3M in Hilden, Ursula Marie Eckert. Bis heute fehlen drei ihrer Kollegen in der Firma, weil sie die Ereignisse vom 9. November 2012 nicht bewältigen konnten.
Ausreichende Zahl Ansprechpartner
Ein weiteres Beispiel: Es war ein Freitagabend, an dem ein ehemaliger Mitarbeiter, der 15 Jahre lang in einer Produktionsstätte tätig war, in die Firmenräume eindrang und vier frühere Kollegen erschoss. Bevor der Amokläufer die Waffe gegen sich selbst richtete, verletzte er zwei Arbeiter leicht und zwei schwer. „Wir haben einen Notfallplan für die Produktion und ein betriebliches Krisenmanagement, aber für den Umgang mit seelischer Not brauchten wir klare Ansagen und die Notfallseelsorger stimmten ihre Bereitschaftsdienste auf unsere Schichtpläne ab“, erinnerte sich die Personalmanagerin.
Wut und Schuldfragen
„Notfallseelsorger sind die Ersten, die helfen, wieder Vertrauen ins Leben zu fassen“, stimmten die Podiumsteilnehmer überein. Sie kennen die Wut der Opfer, wenn eine Gewalttat den Lebensentwurf schlagartig zunichte macht. „Ich will in meinen Alltag zurück“, sei häufig der dringendste Wunsch. Schließlich schnitt Notfallseeslorger Albrecht Roebke ein heikles Thema an: Angehörige von Tätern fallen bisher aus dem Hilfsangebot heraus. Für die Anmerkung „Auch diejenigen, deren Leben unverschuldet zerbrochen ist, brauchen Betreuung“, bekam der Notfallseelsorger Applaus. Er fügte hinzu: „Wo sonst entstehen für sie geschützte Räume, wenn nicht bei uns?“
Geistlicher Impuls von Superintendentin Andrea Vogel
Einen geschützten Raum mit Zuspruch und Ermutigung bot auch der geistliche Impuls von Pfarrerin Andrea Vogel. „Bei Dir, Herr, habe ich Zuflucht gefunden“, zitierte die Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises Köln-Rechtsrheinisch den Psalm 31. „Es gibt Bilder, die bleiben im Gedächtnis, Bilder, die man am liebsten wegwischen möchte, aber es geht nicht“, leitete die Pfarrerin aus Köln-Mülheim ihren geistlichen Impuls zum Abschlusstag ein. Trotz guter sozialer Beziehungen bleibe ein Rest innerer Einsamkeit. Das Gebet mithilfe von Psalmenversen helfe bei der Suche nach Auswegen bei schwer zu ertragenden Zuständen nach einer Gewalttat.
Ermutigung für die Notfallseelsorger
Den quälenden Bildern, die Menschen in die Sprachlosigkeit treiben, würden Notfallseelsorger positive Bilder entgegensetzen, so Vogel. Und die Ankunft der Ersthelfer signalisiere: „Da sind Menschen, die helfen.“ Die Superintendentin nannte ein weiteres Bild: „Zwei gehen nebeneinander her“. Seelsorger, die sich in einem Einsatz befänden, würden Menschen begleiten und ihnen beistehen, sie „gehen eine Wegstrecke miteinander“. Vogel bezog sich auch auf ein Lesezeichen, das die Kongressteilnehmer am Tag zuvor im Gottesdienst erhalten hatten. Es zeigt vier Hände als Symbol für die Vernetzung der verschiedenen Organisationen, die miteinander arbeiten und so ein tragfähiges Netz bilden. „Dies trägt die Betroffenen und die Mitarbeitenden“, so Vogel. Deutlich werde es auch in dem Kirchenlied von Arno Pötzsch „Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand“. Vor Gott dürfe man so sein, wie man ist, Gott halte schützend seine Hand über jeden Menschen und geleite ihn durch das Leben. Dieser Trost, diese Ermutigung, die der Dichter in seine Formulierung gelegt habe, gelte auch den Menschen, die für andere in Not da seien – eben den zahlreichen haupt- und ehrenamtlichen Notfallseelsorgern.
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Interview mit Pfarrer Holger Reiprich, Koordinator der Feuerwehr- und Notfallseelsorge in Köln, im Rhein-Erft-Kreis und Rheinisch-Bergischen Kreis und einer der Koordinatoren des 17. Bundeskongresses für Notfallseelsorge und Krisenintervention.
Wie groß ist Ihr Team, wie viele Einsätze hatten Sie im vergangenen Jahr und um welche Notfälle handelte es sich?
Holger Reiprich: Wir haben drei Notfallseelsorgeteams mit rund 60 geschulten Helfern, überwiegend Pfarrerinnen und Pfarrer. Insgesamt zählten wir 375 Einsätze in 2014, davon 215 in Köln, 100 im Rhein-Erft-Kreis und 60 im Rheinisch-Bergischen-Kreis. Zu 50 Prozent leisten wir Beistand, wenn ein Angehöriger plötzlich verstorben ist. Suizide, bei denen Hinterbliebene in eine Krise geraten, weil sie sich eine Mitschuld geben, machen etwa 20 Prozent unserer Einsätze aus. Ebenso die Begleitung der Polizei beim Überbringen von Todesnachrichten, nach einem Unfall oder einer Gewalttat. Die Übrigen sind Einzelfälle, beispielsweise Katastrophen wie der Germanwings-Absturz oder der Einsturz des Kölner Stadtarchivs.
Was können Sie für die Menschen in Not tun?
Holger Reiprich: Ich halte die Situation mit den Betroffenen aus, entlaste und beruhige, zeige Wege, wie das Leben weitergehen kann nach dem traumatischen Erlebnis. Und ich gebe theologische Antworten, zum Beispiel auf die häufig gestellte Frage nach dem Warum. Falls konfessionelle Abschiedsrituale gewünscht werden, vermittele ich bei dem Bedürfnis nach einem katholischen Ritus in der Regel an einen Priester.
Welche Impulse nehmen Sie mit von dem Bundeskongress?
Holger Reiprich: Der Vortrag über hirnphysiologische Wirkungen von traumatischen Erlebnissen war für mich eine Fortbildung. Ich habe besser verstanden, was in den unterschiedlichen Bereichen des Gehirns geschieht, wenn Menschen ein Trauma erleben. Hilfreich waren die Einblicke aus erster Hand in die Sichtweisen von Gewaltopfern. Dadurch habe ich gelernt, welche konkreten Bedürfnisse in den unterschiedlichen Phasen nach dem Erleben da sind und wie in der Akutphase die Notfallseelsorge und später die Kirchengemeinden die Menschen begleiten können. Durch Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen und Kollegen bekam ich außerdem wertvolle praktische Hinweise und Bestätigung, zum Einen in Bezug auf mein Vorgehen in der Notfallseelsorgesituation, zum Anderen in Bezug auf die Struktur und Organisation der Notfallseelsorge.
Haben Sie Rituale, um mit besonders belastenden Einsätzen umzugehen?
Holger Reiprich: Ich fange mit der Verarbeitung auf der Rückfahrt an. Räumlicher Abstand hilft bereits. Wenn ich dann die Berichte verfasse, reflektiere ich die Fakten und gewinne weitere Distanz. Der Austausch im Team hilft ebenfalls. Auch meine Partnerin fängt viel auf, aber ich bin sehr vorsichtig mit Schilderungen, um die eigene Belastung nicht auf die anderen zu übertragen.
Foto(s): Ulrike Weinert