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„Mascha, du darfst sterben“

Die Hauptperson ist nur in Schwarz-Weiß gegenwärtig. Ihr junges Gesicht steht gerahmt auf dem Klavier, davor ein brennendes Teelicht: Mascha. Sie ist tot, schon seit 2009. Trotzdem sind ihretwegen viele Menschen an diesem Frühlingsabend nach Kürten-Delling gekommen. Sie sitzen dichtgedrängt im evangelischen Gemeindehaus und warten, Gott sei Dank nicht auf den Tod, auf den Mascha viel zu früh viel zu lange warten musste. Doch sie warten – durchaus mutig angesichts des Tabuthemas Tod – auf eine Ahnung davon.

Viele wissen, dass Mascha als 17-Jährige auf der Straße angefahren wurde, fünf Monate im Wachkoma lag und dann im Hospiz starb, nachdem ihre Mutter lange mit sich wie auch mit Ärzten um das Abschalten der Apparatemedizin gerungen hatte. Wer an diesem Abend gekommen ist, will hören, was Maschas Mutter, Antje May, empfunden, was sie zu sagen hat und wie sie ihre Trauer bewältigt.

Zwischen Hoffen und Bangen
Manchmal ist es leichter, das nahezu Unaussprechliche aufzuschreiben und es im Schreibprozess zu klären und zu verarbeiten. Jedenfalls sei es für sie so gewesen, sagt Antje May. Herausgekommen ist ein berührendes Buch: „Mascha, du darfst sterben“. Aus ihm liest die 52-Jährige quer Passagen, die einen Einblick in das Leben und Sterben ihres Kindes geben und die Qualen einer Mutter widerspiegeln, die zwischen Hoffen und Bangen schwebt, die den Willen ihrer Tochter umsetzen und diese vor allem nicht unnötig leiden lassen möchte, die mit Entscheidungen ringt und zwischen Trauer, Angst und Liebe den richtigen Weg finden möchte – wenn es diesen denn überhaupt gibt.

Wenige Meter von Maschas Grab entfernt
Eine kleine Leselampe, ein Väschen mit Vergissmeinnicht, anteilnehmende und gespannte Totenstille im Raum. „Es ist heute meine erste Lesung zu meinem ersten Buch – und wahrscheinlich ist es mein letztes“, sagt Antje May. Delling hat sie sehr bewusst für diese Lesung ausgewählt: „Es ist der Ort, wo Mascha ihre christlichen Wurzeln fand.“ Hier wurde sie getauft, konfirmiert und dann auch begraben. Außerdem wohnt May inzwischen in der kleinen Kürtener Idylle, da sie durch glückliche Umstände in das alte Dellinger Fachwerkhäuschen, das früher mal die evangelische Schule war, einziehen konnte – nur wenige Meter von Maschas Grab entfernt.

Das Leben aus den Angeln gehoben
Für Antje May war der Tod eigentlich kein Unbekannter, denn seit etwa 30 Jahren arbeitet sie als examinierte Altenpflegerin, seit langem bei der Lebenshilfe. Fortbildungen hat sie in Baseler Stimulation, Palliativ Care und Systemischer Beratung gemacht. Doch auf sein persönliches Schicksal kann niemand vorbereitet sein, schon gar nicht, wenn ein junger Mensch stirbt. Und so hat der Abend des 19. Februar 2009, als Mascha vom Zuhause über die Landstraße zum Linienbus in Jörgensmühle – ein Weiler zwischen Kürten und Wipperfürth – ging und von einem Auto angefahren wurde, das Leben von Antje May aus den Angeln gehoben. „Es riss mir den Boden unter den Füßen weg“, heißt es im Buch und dann: „Dennoch, ich stehe heute immer noch – nur anders …“

Beerdigung von Maschas Vater
Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, Wachkoma, Operationen, intensivmedizinische Überwachung, multiresistenter Krankenhauskeim … Das Leiden von Mascha hatte keine Aussicht auf Besserung. „Mir schien schließlich der Tod die einzige Hoffnung auf Rettung zu sein.“ In schlichten und deshalb umso aufwühlenderen Worten hat Antje May beschrieben, was sie, damals alleinerziehend, miterleben musste. Was ihr bei der Frage „Wie würde Mascha sich entscheiden?“ immer wieder Orientierung gab, waren die Gespräche, die sie mit der Tochter in den ein, zwei Wochen vor dem Unfall geführt hatte. Darin ging es – Zufall oder nicht? – viel um den Tod. Anlass war die Beerdigung von Maschas Vater gewesen, doch das Thema hatte die 17-Jährige nicht losgelassen. „Ich will leben, nicht nur existieren“, schrieb sie in einem Blog. Und zur Mutter sagte sie: „Mama, ich will nicht gerne beatmet werden“ und „Wenn ich mal tot bin, möchte ich, dass meine Asche hier und da verstreut wird, geht das?“ Für Antje May war das Antrieb, die Asche der Tochter einem finnischen See anzuvertrauen.

Wieder zu seinen Gefühlen stehen
Bilder aus Finnland gibt es auch in der Lesung, sie bieten den Zuhörerinnen und Zuhörern einen Moment des Innehaltens und Durchatmens. Maschas älterer Bruder Raphael hinterlegt die Fotos mit der Filmmusik aus „Die fabelhafte Welt der Amélie“, die seine Schwester so sehr mochte. Genau wie die Songs von Clueso, dessen Lied „Gewinner“ Burkhard Wigger und Christian Marré aus Antje Mays Wipperfürther Freundeskreis live vortragen. Hier und da fließen Tränen. Für Dellings Pfarrer Ralph Knapp, der die Zuhörer zu der Lesung begrüßt hatte, ist das Buch daher nicht nur ein persönliches Schicksalsdokument, sondern auch ein Appell, „dass man endlich wieder zu seinen Gefühlen steht“ und sich ab einem bestimmten Aufwand an Gerätetechnik eingestehe, „dass das kreatürliche Leben vorbei ist“.

Elementare Fragen des Lebens und des Endes
Siegfried Charlier, als Supervisor tätig in Maschas Hospiz in Erkelenz, hat während der Lesung wie eine Art Fels, als Rückhalt neben Antje May gesessen. Anfangs las er sein Geleitwort zum Buch vor, in dem er „diesem mutigen Buch“ eine breite Leserschaft wünscht: „Nicht nur, dass damit der tragische, viel zu frühe Tod von Mascha einen abstrakten ,Sinn‘ bekommt, sondern auch ganz praktisch, dass wir, jeder für sich, uns schon mal rechtzeitig mit den elementaren Fragen unseres Lebens und Endes beschäftigen.“

Ethik und Würde statt Sterbehilfe
Genau das ist es, was sich auch die Autorin erhofft: „Ich wünsche mir sehr, dass mehr Menschen darüber nachdenken, dass wir alle, zu der Zeit, von einem Schicksal betroffen sein können.“ Allerdings stellt sie in puncto Tod und Sterben klar: „Ich rede hier nicht von Sterbehilfe, sondern meine Themen sind Ethik und Würde. Diese Begriffe dürfen in unserer hochtechnisierten Zeit nicht vergessen werden.“ Antje May appelliert daher an alle, ihren Willen zu benennen, „solange man noch dazu in der Lage ist“. Das kommt an. Viele kaufen ihr Buch an diesem Abend und lassen es sich signieren.

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Antje May: „Mascha, du darfst sterben“, Gütersloher Verlagshaus, 2016, 190 Seiten, ISBN 978-3-579-08634-7, 16,99 Euro

Text: Ute Glaser
Foto(s): Ute Glaser