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Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchthon-Akademie.

Martin Bock zum Ökumenischen Rat der Kirchen: „Versöhnungswege und theologische Annäherungen“

„Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“, mit diesem Motto will der Ökumenische Rat der Kirchen aufzeigen, welchen Beitrag die Kirchen für eine friedliche und geeinte Gesellschaft einbringen können und welche Rolle sie für das gesellschaftliche Miteinander haben. Vom 31. August bis zum 8. September 2022 schaut die christliche Welt zur 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen nach Karlsruhe (ÖRK). Es kommen rund 5.000 internationale Gäste aus 350 Mitgliedskirchen. Ein Ereignis, das nur alle acht Jahre stattfindet, und zum ersten Mal in seiner über 70-jährigen Geschichte in Deutschland.

Zusätzlich zum offiziellen Programm auf dem Festplatz wird in der Innenstadt in Karlsruhe ein vielfältiges Begegnungsprogramm stattfinden, das von den gastgebenden Kirchen organisiert worden ist. An mehreren „Begegnungsorten“ werden in Workshops, Vorträgen, Diskussionen und weiteren vielfältigen Formaten die thematischen Schwerpunkte der Arbeit des ÖRK im Zentrum stehen. Ein Interview mit Dr. Martin Bock, Pfarrer und Akademieleiter Melanchthon-Akademie Köln, der am ÖRK teilnehmen wird:

Was ist Ökumene, welche Bedeutung hat Ökumene?

Martin Bock: Das Wort „Ökumene“ hat eine sehr schöne und lebendige Bedeutung: Es heißt „die bewohnte Welt“ und meint, dass das Christentum eine weltweite Bewegung ist, ein Baum mit vielen Ästen und Verzweigungen, die zu einer gemeinsamen Wurzel zurückreichen. In der heutigen Situation der Klimakrise entdecken die Kirchen den globalen Horizont der Ökumene wieder neu: „Ökumene“ ist der Zusammenhang alles Lebendigen, das von Gottes Atem, seinem Geist, belebt wird. Die Menschen sind nur ein kleiner Teil von Gottes Schöpfungswirken. Auf der diesjährigen Vollversammlung der Kirchen spielt deshalb „die Welt“ in diesem ganz umfassenden Sinn eine große Rolle: Welche Quellen findet unser gemeinsamer Glaube, um – in letzter Minute – anders in Gottes Schöpfung zu leben?

Welchen Stellenwert haben Ökumene und ökumenische Zusammenarbeit?

Martin Bock: Ökumene ist seit ihren institutionellen Anfängen im 19. Jahrhundert von der Sehnsucht nach „Einheit“ geprägt. Ähnlich wie heute war das 19. Jahrhundert eine Zeit, die von Nationalismus, Kolonialismus und Eigensinnigkeit in jeder Hinsicht geprägt war. Das Christentum stand, weil es mit Thron und Altar so viele schlechte Verbindungen errichtet hatte, unter keinem guten Stern. Die Leute traten – in Europa – erstmals in großen Zahlen aus den Kirchentümern aus, entfremdeten sich, der christliche Glaube wurde unmodern. Die Ökumene war eine inspirierende  – und übrigens junge! – Gegenbewegung gegen diesen Megatrend. Sie war eine Bewegung, um die versöhnende und friedliche Kernbotschaft des Evangeliums wieder glaubwürdiger und nahbarer zu machen.

Und in der heutigen Zeit?

Martin Bock: Heute sehe ich Parallelen: Eigentlich kann uns Christen und Christinnen nur noch die ökumenische Bewegung retten. Denn die konfessionellen Kirchentümer, wie sie von Europa ausgehend seit Jahrhunderten entstanden sind, haben zwar je unterschiedliche interne Baustellen – aber die großen Fragen haben wir gemeinsam zu klären: Wie bringen wir den biblischen Gott wieder neu ins Gespräch zwischen den Menschen, wie erzählen wir von seiner Freiheit, von der Befreiung und Hoffnung, die den Kern der Bibel bilden? Wie bilden wir Vielfalt und Diversität in unseren Kirchen ab, wie leben wir selbst „gerechter“? Wie stellen wir uns ehrlich zu den Lasten des Kolonialismus, mit dem wir lange den globalen Süden geprägt haben? Wie kommen wir mit den (Christen)-Menschen aus dem globalen Süden ins Gespräch, die völlig zu Recht ungeduldiger mit uns werden? Die konfessionellen Probleme, die unsere Kirchen spätestens seit der Reformation miteinander haben, sind im globalen Süden einen anderen Weg als hier gegangen. Das müssen wir wahrnehmen. Deshalb ist Motto der Ökumenischen Vollversammlung schon eine richtige Agenda: Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt. Wichtig ist mir, dass das „eint“ nicht am Anfang steht, sondern einen Zielpunkt bildet. Es darf kein Beton sein, der uns zur Einheit erstarren lässt. Das will keiner, sondern das Gegenteil!

Können Sie Beispiele geben, was alles zur Ökumene gehört?

Martin Bock: Vor Ort in der Gemeinde fällt auf den ersten Blick nur das Verhältnis zu den anderen Konfessionen, zum Beispiel zur römisch-katholischen, unter „Ökumene“. Dieses Verhältnis ist ja nicht nur das zwischen zwei Kirchtürmen oder zwischen Pfarrern und Pfarrerinnen und Hauptamtlichen. Mehr als 50 Prozent aller Familien sind inzwischen interkonfessionell. Zwei Konfessionen bilden den Hintergrund der eigenen Lebensgeschichte. Das zu leben, ist eine Kunst, bei der es Unterstützung und Sensibilität braucht. Dann haben ja viele Gemeinden und Kirchenkreise auch Partnerschaften zu anderen Kirchen, die man zur „weltweiten Ökumene“ zählt. Ökumene hat auch noch andere Aspekte: interkulturelle zum Beispiel. Jeder Mensch, jedes Gemeindemitglied, jedes Familienmitglied, mit einem internationalen Hintergrund, bringt ihre und seine Spiritualität mit, die durchaus anders sein kann als die von mir gewohnte. Andere Lieder, eine andere Art zu beten, ein anderes Verhältnis zum Islam oder zum Judentum.

Welche Bedeutung hat die 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen für uns – auch, dass es zum ersten Mal in Deutschland stattfindet?

Martin Bock: Es ist für unser Land eine große Ehre, dass sich die Vollversammlung hier trifft – nach etlichen Corona-Verschiebungen. Deutschland ist mit seiner konfessionellen Geschichte und den Verwerfungen, die der Reformation, den Konfessionskriegen etc. folgten, ein Land mit wichtigen Erfahrungen, die wir einbringen können. Das Reformationsjubiläum liegt erst 5 Jahre zurück: Jetzt ist die Zeit, von den Prozessen zu erzählen, die uns in den letzten Jahren geprägt haben. Als Stichworte nenne ich: Heilung der Erinnerungen, Versöhnungswege, theologische Annäherungen, neue Wege von Gemeinden, die sich ihre Arbeit ökumenisch teilen. Dann ist Deutschland aber auch das Land, in dem der Nationalsozialismus schreckliches Leid über Europa gebracht hat. Die Shoa hat die Kirchen Europas an der Wurzel berührt und sie zu einem ganz anderen Verhältnis zum Judentum herausgefordert. In diesem Land treffen nun Christen und Christinnen aus aller Welt zusammen, zum Beispiel aus dem arabischen Raum und aus Afrika, für die das „Narrativ“ Shoa zunächst nicht das eigene ist. Wie lässt sich da besprechen, dass der weltweite Antisemitismus uns alle herausfordert!? Die Debatten um die Documenta XV zeigen, wie viel Sensibilität nötig ist, um diesen globalen Zusammenhang zu verstehen. Also: Die Frage einer politisch wachen „Israel-Theologie“ wird die Vollversammlung auch beschäftigen. Neben diesem Thema erwartet man sicher auch zu Recht, dass von Karlsruhe ein Wort des Friedens zum Ukraine-Krieg ausgeht. Und mit „Wort des Friedens“ meine ich ein friedensethisches und friedenstheologisches, das – das möge Gott schenken – zur Versöhnung bewegt.

www.karlsruhe2022.de

Text: Frauke Komander
Foto(s): Frauke Komander