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Luther „reloaded“ in heutige Lebenswelten

„Wen juckt's?!“ Die umgangssprachliche Frage stellte Professor Dr. Gotthard Fermor, Direktor des Pädagogisch-Theologischen Instituts (PTI) Bonn, in seinem Vortrag „Reformation und Lebenswelt. Erkundungen in spirituellen Welten und bleibende reformatorische Erinnerungen“. Der 53-jährige evangelische Gelehrte gab im Haus der Evangelischen Kirche in Köln Anregungen, Martin Luthers Gedanken in die heutige Zeit hinein zu transportieren. Oder „zu reloaden“, daher der Tagungstitel „Luther 2.0“.

Veranstaltet wurde der Bildungstag für Gemeinde und Schule vom Evangelischen Jugendpfarramt, vom Evangelischen Schulreferat und Pfarramt für Berufskollegs und von der Melanchthon-Akademie.

Wer interessiert sich dafür?
Mit zahlreichen Veranstaltungen wird 2017 im Einzugsbereich des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region das Jubiläum „500 Jahre Reformation“ gefeiert. „Aber wer wird sich wirklich dafür interessieren?“, fragte Fermor provokant und führt aus: „Wenn sich da nur die Restkirche selbst feiert, wäre verspielt, wofür die Reformation steht“.

Kirche in der heutigen Zeit
Unter der Leitformel „ecclesia semper reformanda“ (die immer neu zu verändernde Kirche) erläuterte der Referent, welche Relevanz Kirche in der heutigen Zeit mit einer Vielfalt von spirituellen Lebenswelten hat. Mehrfach betonte Fermor, dass er über theologische und nicht über strategische Fragen spreche, um mehr Menschen in die Kirche zu holen. Aus der Erkundung spiritueller Lebenswelten folgt für ihn eine Neuausrichtung kirchlicher Arbeit. Die „säkulare“ Welt lebe es bereits vor: „Es ist erstaunlich, wie viel Theologie sich sogar in der alltäglichen Sprache, im Internet, in der Popmusik oder im Film widerspiegelt“, so Fermor.

Spiritualität – ein „zeitdiagnostisches“ Wort
„Spiritualität ist ein zeitdiagnostisches Wort“, meint der Theologie-Professor. Es stehe unter anderem für eine Distanzierung von tradierter Religion, wie in dem von Regina Polak herausgegebenen Buch „Megatrend Religionen“ dargelegt. „Ich bin spirituell, nicht religiös“ oder „Zur Religion kann ich nichts sagen, aber zur Spiritualität eine Menge“, äußern sich viele Menschen heute.
„Religiöse Themen verschwinden nicht, sondern werden neu formuliert“, schlussfolgert Fermor. Und weiter: „Traditionswandel bedeutet nicht Abbruch – wenn das nicht Reformation ist!“. Heutigen Formen religiöser Individualisierung, etwa „Ich bin Christ, aber auch Buddhist“, steht Fermor aufgeschlossen gegenüber. Ja, die Kirche habe Konkurrenz bekommen. Aber in der „Patchwork“-Haltung, dass Menschen in der Institution bleiben, aber woanders Spiritualität leben, liege eine Chance.

Wo „surft“ die Evangelische Kirche mit?
„Wie müssen wir sprechen, damit man uns zuhört?“, lautet für Fermor die Kernfrage der Gotteserfahrung, die sich nicht auf Konfessionen beschränkt. Von welchem Belang der evangelische Glaube in der Welt sein könne, hänge davon ab, wie der Glaube auf das bezogen werde, was Menschen bewegt. Fermor zeigte eine Grafik des Zukunftsinstituts, das die aktuellen elf Megatrends in einer U-Bahn-Netz-Karte darstellt. „Wo fährt oder surft unsere Kirche mit?“, fragte der „Luther 2.0“-Referent.

Grundüberzeugungen in neuen Formaten formulieren
In der Diskussionsrunde äußerten Bildungstag-Teilnehmer Bedenken, die evangelische Kirche könne sich „anbiedern“ und ihre Substanz „verwässern“. Solche Sorgen räumte der Professor aus: „Die Gottesfrage zu stellen, heißt nicht, eine Form zu bedienen, sondern sie zu sprengen.“ Es sei ein Erbe der Reformation, theologische Grundüberzeugungen in zeitgemäßen Formaten zu formulieren.
Für die Praxis gab Fermor den Religionspädagogen in Schulen und Gemeinden die Empfehlung mit, auf die Sprache der Menschen zu achten. „Zuhören ist der erste Schritt, bevor wir Antworten geben“, so Fermor. Ein Satz wie „Du bist ein geliebtes Kind Gottes“ käme heute kaum noch an. Verständlicher sei im Zeitalter der Kommunikation über Soziale Medien wohl eine Antwort wie „Du bist jemand, bevor Du Dich darstellst.“

Markt der Möglichkeiten
„Der Bildungstag ist ein Service für Schulen und Gemeinden, die unterschiedlich nah am Reformationsjubiläum sind“, erklärte Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchthon-Akademie, die zu „Luther 2.0“ eingeladen hatte. Religionslehrer bekamen Ideen für den Unterricht an die Hand, wie spannende Mitmach-Geschichten, Detektiv- oder Mystery-Spiele. Gemeinden probierten bereits erfolgreich eine mittelalterliche Rollenspiel-Rallye zum Leben Luthers aus.

Zum Reformationsjubiläum bietet die Melanchthon-Akademie einen theologischen Studiengang von September 2016 bis Juli 2017 an. Die ökumenische Mitmachausstellung „Voll im Leben“ lädt Jugendliche vom 20. September bis zum 7. Oktober 2016 im Haus der Evangelischen Kirche und im Jugendpastoralen Zentrum CRUX dazu ein, das Buch der Psalmen zu entdecken.

Text: Ulrike Weinert
Foto(s): Ulrike Weinert