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„Leben und sterben, wo ich hingehöre“: Sozialpsychiater Klaus Dörner sprach realistisch-visionär und mit einer ansteckenden Begeisterung in der Kölner Melanchthon-Akademie

Wie können Menschen trotz alters- und krankheitsbedingter Einschränkungen in ihrer häuslichen Umgebung wohnen und in ihrem Viertel sozial eingebunden bleiben? „Leben und Wohnen im Alter“, so lautet der diesjährige Schwerpunkt der Melanchthon-Akademie. „Wir wollen dieses Thema im Raum Köln stärken, einen breiten Austausch über alternative Modelle, bürgerschaftliche und kirchengemeindliche Hilfesysteme anregen“, informiert Joachim Ziefle, Studienleiter der Weiterbildungseinrichtung des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region. In der nächsten Veranstaltung am Montag, 8. Juni, 19 Uhr, werden am Akademieort (Kartäuserwall 24b) entsprechende von Kölner Kirchengemeinden und Vereinen initiierte Projekte vorgestellt. Daneben sollen unter anderem die Möglichkeiten der Förderung weiterer Vorhaben diskutiert werden.

Profiliertester Vertreter der deutschen Sozialpsychiatrie
Den Auftakt der Schwerpunkt-Reihe bestritt mit Klaus Dörner, eine wirkliche Koryphäe. Als Impulsgeber eingeladen, hätte sein Vortrag mehr als die knapp 30 Zuhörenden verdient. Von der stellvertretenden Akademieleiterin Christina Wohlfahrt wurde er als „der profilierteste Vertreter der deutschen Sozialpsychiatrie“ vorgestellt. Geachtet, aber ebenso angefeindet wird der habilitierte Mediziner und promovierte Historiker wegen seines unerschrockenen Streitens in der Sache. So tritt er vehement für ein eigenständiges Leben von Behinderten und psychisch Kranken außerhalb von Heimen und Anstalten ein. Große Wirkung entfalteten etwa seine radikalen Reformen, die er in den 16 Jahren als ärztlicher Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie in Gütersloh durchsetzte. Dort gelang es ihm, bis zu seiner Pensionierung 1996, nach und nach insgesamt 436 Langzeitpatienten in individuell angepasste Wohnsituationen zu entlassen und zu integrieren. Unverändert spricht sich der heute 75-Jährige etwa vehement gegen die Kommerzialisierung der Gesundheit aus; gegen die Abschiebung und Ausgrenzung alter und kranker Menschen. (Senioren)Heime sind für ihn „nur die zweitbeste Lösung“.

Kämpfer für den Verbleib in der eigenen Wohnung
Ein wesentliches Thema nach seiner Berentung wurde ihm die alternde Gesellschaft. Und die Frage, wie sie mit der Integration von Alten und Dementen umgeht. So machte er sich auf den Weg. Anfangs, um zu lernen. Später, um seine Erfahrungen und Erkenntnisse daraus weiter zu geben. Das hatte Dörner, Präsidiumsmitglied des Deutschen Evangelischen Kirchentages, auch schon auf den Kirchentagen 2007 in Köln und wenige Stunden zuvor in Bremen getan. Und das tat der gefragte Gesprächspartner nun in der Melanchthon-Akademie: gewohnt souverän, realistisch-visionär, zwar provokant, doch nicht besserwisserisch, Ross und Reiter nennend, nachvollziehbar argumentierend, aufwartend mit historischen Vergleichen und philosophischer Untermauerung sowie einer ansteckenden Begeisterung für die doch überraschend vielen praktischen Umsetzungen. Er selbst nennt seine Informations- und Überzeugungsreisen, in den letzten zehn Jahren waren es 1015, augenzwinkernd Missionarstätigkeit. Tatsächlich ist er ein Mutmacher. Auch mit seinem 2007 erschienenen Buchtitel „Leben und sterben, wo ich hingehöre“. Darin redet er einem umfassenden, auf bürgerlichem Engagement beruhenden Hilfesystem für Alte und Kranke das Wort. Darin entwickelt er entsprechende Visionen und Strategien, stellt er viele Beispiele von bereits bestehenden Initiativen vor. Sie alle zielen auf den Verbleib von auch alten und/oder kranken Menschen in ihrer häuslichen Umgebung bis zum Tod.

Auf vielfachen Reisen eine Aufbruchstimmung entdeckt
„Unsere Generation ist die erste, die sich mit dem Älterwerden wirklich auseinandersetzt“, sagte Dörner. Nicht ohne Grund. „Wir wachsen in eine Gesellschaft mit dem größten Hilfebedarf überhaupt hinein“, schilderte er die prekäre Lage. Dabei sei die Zahl der Bürger, die in ein Alten-/Pflegeheim zu gehen wünschten, in den letzten 30 Jahren auf Null Prozent gesunken. Es gelte sich auf diesen Wunsch der Menschen einzustellen, möglichst lange in der eigenen Wohnung, im vertrauten Viertel zu wohnen und dort auch zu sterben. Auf seinen Reisen zu Vereinen, freien Trägern und anderen Initiativen habe er eine „Aufbruchstimmung“, das Wachsen „einer neuen Mentalität bei den Bürgern in einer großen Breite“ vernommen. Daher wolle er nicht von einer Krise erzählen, sondern von dem, „was es längst gibt, was Bürger seit 1980 entwickelt haben. Da gibt es ganz tolle Einfälle“, erzählte Dörner mit ansteckendem Optimismus.

„Nur Bürger können andere Bürger integrieren“
„Mit dem in den letzten 100 Jahren bewährten Hilfesystem kommen wir nicht mehr aus“, stellte er fest. In der Industriegesellschaft sei das zuvor bürgerschaftliche Engagement professionalisiert worden. „Der Bürger sollte sich nicht mit der Pflege beschäftigen, sondern frei sein für die Arbeit.“ Allmählich wachse die Einsicht, dass privates, bürgerliches Engagement genau so wichtig sei wie professionelles. „Beide Ebenen müssen sich auf derselben Ebene begegnen“, forderte Dörner. Und wichtig sei, dass sich Bürger, wie üblicherweise die professionelle Seite, autonom organisieren. Dabei brächten beide Parteien etwas völlig unterschiedliches ein. „Profis können zwar die Integration fördern und Verbindungen schaffen, aber sie können Menschen nicht im fortlaufenden Alltag integrieren. Nur Bürger können andere Bürger integrieren. Das hatte auch ich völlig neu zu lernen“, berichtet Dörner von seinem früheren „profizentrischen Weltbild“.

„Heimfreie Zonen in die Gesellschaft“
„Sämtliche ‚Messinstrumente‘ sagen, wir Bürger haben angefangen uns zu ändern“, so Dörner. Entgegen der veröffentlichten Meinung einer „Ellenbogen-Mentalität“ unserer Gesellschaft sei er tatsächlich einer anderen Realität begegnet. „Das ist das ´Wunder´“. Bereits seit 1980 sei die Zahl der Freiwilligen stetig angestiegen. Zumindest zeitlich falle dies mit den Massenaustritten aus den Kirchen zusammen. Ob es auch inhaltliche Bezüge gebe, sei unbelegt. Dörner berichtete vom Entstehen einer neuen Aidshilfe-Kultur, von der gewachsenen Zahl der Hospizvereine und Selbsthilfegruppen. Von der „boomenden Bewegung“ der ambulanten Hilfsdienste für Alte und Kranke, die an manchen Orten „heimfreie Zonen in die Gesellschaft gebracht haben“. Oder von der Initiative, Senioren als Wahlverwandte in Gastfamilien zu integrieren. Ebenso nannte er die „ganz zauberhaften“ Bürgerstiftungen. „Sie waren viele Jahrhunderte tot, jetzt wachsen sie wieder.“ Statistisch würden jeden Tag mehr als drei von ihnen gegründet. „Man weiß kaum noch wohin mit ihnen“, so Dörner scherzhaft. Dabei sei es üblich, Zeit oder Geld zu geben. Andererseits sei es im Rahmen dieses Bürgerengagements nicht unüblich, „wenn es gar nicht anders geht“, für Hilfe auch Geld zu nehmen.

Jeder brauche „eine Tagesdosis an Bedeutung“
Als „riesenhafte Neuerung“ bezeichnete Dörner das generationenübergreifende Wohnen und Siedeln. Es beruhe auf der gegenseitigen Vereinbarung, sich zu helfen, im Alter, in Krankheit… Tausend Projekte dieser Art seien in den letzten dreißig Jahren entstanden, mit mal zwanzig Personen, 60 oder auch hundert Menschen. Das alles berühre schon die Struktur der Gesellschaft. Und es zeige: „Wenn man allein oder alt ist, tut man sich zusammen.“ Dörner konstatierte, dass „Profiwesen und Bürgerwesen aufeinander zu wachsen, Bürger werden zu Semiprofis, man weiß nicht genau, wohin das führt“. Bereits ein Drittel der Deutschen engagiere sich, ein weiteres Drittel zeige kein Interesse, und das letzte Drittel könnte sich vorstellen zu helfen, wenn es gefragt würde, so Dörner. Die Menschen seien durchlässiger geworden, aufgeschlosser. Man freue sich zwar über immer mehr freie Zeit. Aber Freizeit könne man nicht maximieren, sondern nur optimieren. „Sie merken, dass neben der Arbeitszeit und Freizeit eine dritte Zeit fehlt“, nannte Dörner die „Soziale Zeit“. Denn jeder Mensch brauche eine Tagesdosis an Bedeutung für andere. „Nicht zu viel, das wäre schrecklich, aber auch nicht zu wenig.“

Immense Bedeutung von Nachbarschaftshilfe
Mittlerweile würden auch etwa Wohnungsbaugenossenschaften erkennen, dass es von (betriebswirtschaftlichem) Vorteil sein könne, auf den Wunsch von alten und kranken Mietern einzugehen, in ihrer gewohnter Umgebung zu bleiben. „Das hat 30 Jahre gedauert. Nun sagen einige, ihr könnt so alt und so ´verrückt´ werden wie ihr wollt, ihr müsst die Siedlung nicht verlassen.“ Um die immense Bedeutung von Nachbarschaft, Nachbarschaftshilfe und die Einbettung in ein funktionierendes soziales Umfeld zu betonten, hat Dörner die Metapher „3. Sozialraum“ kreiert. In Ergänzung zum engen privaten Raum und dem unbegrenzten öffentlichen Raum beschreibt sie einen dazwischen liegenden, kleineren Integrations- und Gemeinderaum. In der Menschheitsgeschichte sei dieser 3. Sozialraum seit jeher bekannt, so Dörner. Soziologen bezeichneten ihn als „Wir“-Raum. Er habe eine Größenordnung von 5.000 bis 20.000/30.000 Bewohner, entspreche also der Größe von Stadtteilen oder Stadtvierteln. „Dort findet das Gemeinschaftliche statt, an diesem Bereich orientieren sich bürgerliche Initiativen, in diesem Umfeld kann man Menschen ansprechen und erreichen.“

Diakonische Professionalität gemischt mit bürgerschaftlichem Engagement
Einen wesentlichen Teil seines „Feldforschungsberichtes“ widmete Dörner der Kirche und ihren Gemeinden. Sie seien aufgerufen ihren Beitrag bei der Ablösung der trennenden Leistungsgesellschaft durch eine Mischungsgesellschaft zu leisten. Kirche müsse bei den ‚Letzten‘ und Schwächsten anfangen, bei den Alten, Dementen… Mitte des 19. Jahrhunderts, angesichts der sozialen Not infolge des Frühkapitalismus, hätten „kluge Leute der Diakonie“ sinngemäß gesagt: Die Kirchen sind überfordert, wenn sie Gottesdienst und Menschendienst übernehmen. „So wurde Menschendienst ausgelagert in die Institutionen. Das war über 100 Jahre eine Erfolgsstory. Aber bei genauerem Hinsehen bedeutete die Trennung das Aufbrechen der unauflöslichen Einheit von Gottes- und Menschendienst, dem obersten Gebot der Bibel. Der eine geht nicht ohne den anderen.“ Scheinbar sei dies lange akzeptiert worden. Aber jetzt dränge sich der Eindruck auf, dass man innerhalb der Kirche aus der Geschichte lernend neue Wege gehen wolle. Und zwar mit einer Mischung aus diakonischer Professionalität und bürgerschaftlichem Engagement. Das biete der Kirche die große Chance, sich zu „rebiblisieren“, so der kunstwortschöpfende Dörner. Kirchengemeinden könnten gerade in der Kleinräumigkeit ihrer Viertel mit schon kleinen Schritten und Maßnahmen das soziale Leben fördern. Dörner schlug etwa die mancherorts bereits erfolgreich praktizierte Öffnung von Gemeinderäumen für kulturelle Vereine und deren Austausch sowie kommunale Treffen vor. Ebenso nannte er die Ausweitung von Besuchsdiensten zu Nachbarschaftsvereinen sowie die Einrichtung von ambulanten Hilfsgruppen für Demente.

„Jetzt wissen Sie, was Sie ab morgen zu tun haben“
Insgesamt sei ein Kurswechsel bereits eingeleitet worden, aber, wie bei einem großen Tanker mit langem Bremsweg, noch nicht von allen erkennbar. „All diese Dinge sind noch nicht ausgereift“, bekannte Dörner. „Morgen kann jemand etwas Besseres erfinden.“ Aber wenn wir diese Chance nicht ergreifen würden, seien wir selber schuld. „Jetzt wissen Sie, was Sie ab morgen zu tun haben“, schloss er nach 80 Minuten Vortrag, um sich anschließend den zahlreichen Fragen der interessierten Zuhörerschaft zu stellen.

Ankündigung: Leben und Wohnen im Viertel – bis ins hohe Alter
Fünf funktionierende Projekte werden am 8. Juni, ab 19 Uhr, in der Melanchthon-Akademie vorgestellt

Evangelische Kirchengemeinden arbeiten an alternativen Modellen, älteren Menschen das Leben in der gewohnten Umgebung zu ermöglichen und eine Heimunterbringung möglichst zu ersparen. Hierzu braucht es neue Wohnformen, eine Nachbarschaft und die Einbindung von kommunalen Einrichtungen und freien Wohnungsbaugesellschaften. Bereits vorhandene Projekte werden unter dem Motto „Nachbarschaftliches Leben und Wohnen im Viertel – bis ins hohe Alter“ am Montag, 8. Juni, ab 19 Uhr, in der evangelischen Melanchthon-Akademie, Kartäuserwall 24b, vorgestellt. Dazu gehören: „Neues Wohnen im Alter“ – eine Selbstdarstellung des Vereins mit vielen Projektideen; „Bürgerschaft Evangelische Kirchengemeinde Bocklemünd“ – ein Porträt von Pfarrerin Uta Walger; „SOPHIA – Wohnen im Alter“ – Die ideale Wohnraumanpassung stellt Guido Stephan, Geschäftsführer der Antoniter Siedlungsgesellschaft mbH vor; das Seniorennetzwerk der Evangelischen Kirchengemeinde Köln-Klettenberg – vorgestellt von Pfarrer Jost Mazuch sowie „Kulturführerschein Wohnen“ – Ergebnisse des Erwachsenenbildungswerks Nordrhein. Um eine Anmeldung wird gebeten.
Kontakt: Melanchthon-Akademie, Telefon 0221/93 18 03-0, Internet www.melanchthon-akademie.de

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich