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Launiger Tucholsky-Abend in der „Kirche zum Frieden Gottes“

Die 10. Heidkamper Kuturtage haben sich sicher nicht ohne Grund ein historisches Datum ausgesucht für ihren Tucholsky-Abend. Im Jahr 1918 endete am 9. November der erste Weltkrieg und aus dem Deutschen Kaiserreich wurde die erste Republik. 1938 fand an diesem Tag die Reichskristallnacht statt. Der Fall der Mauer 1989 fiel ebenfalls auf dieses Datum und 2012 fand am 9. November auf den Tag genau nach 20 Jahren das zweite Arsch Huh-Konzert in Köln gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit statt.

Saal wieder bis auf den letzten Platz besetzt
„Das hätte Tucholsky gefallen!“ sagt Bernd Höver, der zusammen mit Silvia Nitsche-Mayr, Petra Christine Schiefer und Roman Salyutov am Klavier Texte von Kurt Tucholsky präsentiert. So wie bei allen Veranstaltungen der 10. Heidkamper Kulturtage in der „Kirche zum Frieden Gottes“ in Bergisch Gladbach, war auch dieses Mal der Saal bis auf den letzten Platz besetzt. „Wir sind überrascht und freuen uns über den großen Andrang in diesem Jahr!“ sagt Organisatorin Heide Heesen.

Zauberhafte Liebesgedichte und banaler Alltag
Und die Reihen leeren sich auch nicht, als die Künstler mit einer kleinen Publikumsbeschimpfung ihr Programm beginnen: „Man sollte nicht jeden Quatsch glauben! Wer tut das denn? Das Publikum!“ Unter dem Titel „Man sollte mal…“ werden die Zuschauer und Zuschauerinnen aber sogleich wieder besänftigt mit zauberhaften Liebesgedichten, banalen Alltagsgeschichten, satirischen, politischen Texten, Liedern – scharf und böse, witzig und amüsant, lebensnah, sentimental – jede Nuance ist vertreten. Und dazwischen geworfen gibt es immer mal wieder die berühmten Tucholsky-Schnipsel zu hören: Kleine Aphorismen, Bonmots oder Lebensweisheiten, die der Journalist und Schriftsteller auf kleinen Zetteln gesammelt hat.

„Nein“ sagen erfordert Charakter
Bedenkt man, dass Tucholsky vor 100 Jahren gelebt hat (1890-1935), so erstaunt, dass der Spiegel, den er seiner Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts vorhielt, heute durchaus die gleichen Bilder widerspiegeln würde. Bleiben wir beim Arsch Huh-Konzert, so passt etwa der Schnipsel: „Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.“

Der Mensch auf der Suche nach seinen Wurzeln
Tucholsky interessierte sich für die Menschen. Er beschrieb sie in allen Facetten – ihr Fortpflanzungsverhalten, Geschlechterverhältnis, das Älter werden, das Sterben, die Politik, die Religion: „Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: eine, wenns ihm gut geht, und eine, wenns ihm schlecht geht. Die letztere heißt Religion.“ Und das Fazit: „Neben den Menschen gibt es noch Sachsen und Amerikaner, aber die haben wir noch nicht gehabt und bekommen Zoologie erst in der nächsten Klasse.“ Aber auch der Mensch auf der Suche nach seinen Wurzeln wird wunderbar besungen von Silvia Nitsche-Mayr in dem Lied von den alten Germanen. Und im Gedicht über „Mutters Hände“ erzählt Bernd Höver in schönstem Berliner Dialekt, was Mütter schon vor 100 Jahren leisteten. Tja, heute – so Nitsche Mayr – gibt’s für Mutters Hände zumindest Maniküre und die Hanteln im Fitnessstudio.

Tucholsky – ein Mann der Vielfalt
Neben den vielen Texten erfahren wir aber auch etwas über den Menschen Tucholsky, geboren in gehobenen Verhältnissen, studierte er Jura und veröffentlichte bereits als 17-Jähriger seinen ersten Text. 2500 Veröffentlichungen gibt es insgesamt von ihm. Tucholsky reagierte auf seine Zeit. Er hatte eine analytische Begabung, wird als unbestechlich, warmherzig, bescheiden, aber auch als Mensch mit mutiger Kampfbereitschaft beschrieben. Ein großer Sprachkünstler, ein humorvoller Mensch, ein großer Satiriker. Davon konnte sich das Publikum in den vielen vorgetragenen Texten überzeugen. Bei aller Vielfalt Tucholskys taucht doch immer wieder ein Thema auf: Der Mensch und seine Unfähigkeit, sich mit dem, was er hat, zufrieden zu geben. „Ja, det möchste!“ heißt es in dem Gedicht „Das Ideal“.

„Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn –
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit.“
Jaja, was sind schon 100 Jahre?,
denkt man sich bei diesen Worten.
Nichts hat sich geändert!

Doch! Wir erfahren weiter aus Tucholskys Lebenslauf, dass er 1933, als Hitler die Macht ergriff, „verstummte“ und ins Ausland ging! Denken wir an Arsch Huh und die vielen Künstlerinnen und Künstler, die sich am selben Abend öffentlich gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu Wort meldeten, so sind wir mit Bernd Höver einer Meinung. Das hätte Tucholsky gefreut!

Text: Susanne Hermanns
Foto(s): Susanne Hermanns