Wer in die Trinitatiskirche zur Pfingst-Tagung der Melanchthon-Akademie gekommen war, wollte sich intensiv mit schwierigen Fragen auseinandersetzen. „Religion – jetzt und hier. Die vielen Gesichter wiederkehrender Religiosität“ war das Thema, über das Experten und Teilnehmende an vier Tagen in der Trinitatiskirche und in der Akademie diskutierten. Anlass war die Erkenntnis, dass sich entgegen vieler Prophezeiungen das Thema „Religion“ in der Gesellschaft zurückmeldet. Zum Teil mit anderen Leitbegriffen und Erscheinungsformen.
Braucht der Mensch Religion? „Die erste Antwort ist nein“
Welchen Einfluss die auf den Alltag der Menschen und in der Gesellschaft haben, war Thema der Tagung. Professor Dr. Ludwig Frambach aus Nürnberg beispielsweise stellte in seinem Vortrag die provozierende Frage „Braucht der Mensch Religion?“ und antwortete darauf mit einer „kritisch-konstruktiven Bestandsaufnahme“. „Die erste Antwort ist nein“, so Frambach. „Religionen lösen Kriege aus. Sie sorgen für Feindschaften wie die zwischen den römisch-katholischen Kroaten und den muslimischen Bosnieren, und auf Sri Lanka kann man sehen, dass auch der Buddhismus alles andere als immer friedlich ist.“
Humor ist kein typisches Zeichen von Religion
Religionen seien sehr empfindlich, wenn sie kritisiert würden, führte Frambach weiter aus. Häufig transportierten sie in einem übersteigerten Selbstbewusstsein den Absolutheitsanspruch des Wahrheitsinhabers. Das führe nicht selten zu Intoleranz. Als Beispiel nannte er ein Plakat in Indonesien nach dem Karikaturenstreit, auf dem man habe lesen können „Wer sagt, der Islam sei gewalttätig, wird geköpft.“ Unfreiwillig komisch, denn „Humor ist kein typisches Zeichen von Religion“, sagte Frambach. Dabei sei es der Test für jede gute Religion, ob man über sie Witze machen könne.
Keine unveränderlichen Wahrheiten aufgeben
Wichtig sei auch die Stellung der Religion zur Wissenschaft. Das Wissen habe sich enorm erweitert. Damit einher gehe auch ein grundlegender Wandel des Weltbildes. Unumgänglich sei es für Religionen, darauf einzugehen. „Tradition ist die Bewahrung des Feuers und nicht die Weitergabe der Asche“, erklärte Frambach, der aber auch betonte, dass es unveränderliche Wahrheiten gebe, die man nicht aufgeben dürfe. „Traditionen sind wie Laternen. Sie beleuchten den Weg, den wir gehen sollen. Nur Betrunkene halten sich daran fest.“ So gesehen seien die Pius-Brüder „hochgradige Trunkenbolde“. Auf der einen Seite gebe es eine „Kriminalgeschichte der Religionen“, auf der anderen Seite hätten Religionen den sozialen Fortschritt gefördert. „Dabei gibt es Religionen an sich gar nicht“, erklärte Frambach. „Sie existieren als Konfessionen. Die liegen oft miteinander im Streit. Aber es sind keine homogenen Größen.“
Solidaritätsprinzip statt Selektionsprinzip
Wichtig sei die Essenz der Religionen. Das Christentum habe das evolutionäre „Survival of the fittest“ abgelöst durch die „selektionsmindernde Kultur“. „Das Selektionsprinzip wird umgestaltet durch das Solidaritätsprinzip. Jesu Wirken ist der Bruch mit der biologischen Evolution.“ Jesus Christus habe sich nie exklusiv als Sohn Gottes bezeichnet. Für ihn seien alle Menschen Kinder Gottes gewesen. „Wenn alle Menschen Kinder Gottes sind, dann sind sie verbunden mit allem Leben.“
Ethik muss aus der Mystik entstehen
Frambach ist vom Theologen Albert Schweitzer sehr beeindruckt: „Schweitzer definierte die Ethik als Ehrfurcht vor dem Leben.“ Herausragend gelungen sei ihm die Übertragung seiner christlich-theologischen Einsichten in die Philosophie in eine verständliche Sprache. Statt Philosphie solle man „Denken“ sagen, habe Schweitzer immer erklärt. Und das Denken habe er begriffen als ein immer „tieferes Hineinfragen in die eigene Existenz“. Die Mystik bringe den Menschen zu mehr Innerlichkeit, aber nicht zu einer neuen Ethik. Es gebe Menschen, die in Kursen mystische Erfahrungen bei der innerlichen Suche dergestalt machten, dass sie nicht mehr herauskamen. „Er ging in sich und ward nie mehr gesehen“, so Frambach. Und doch müsse nach Schweitzer die Ethik aus der Mystik entstehen.
Misstrauen gegenüber der Religion
Zurzeit sei das Misstrauen gegenüber und die Angst vor der Religion größer denn je. „Dietrich Bonhoeffer etwa hatte im Widerstand gegen das NS-Regime auch Kontakt zu nichtchristlichen mutigen Widerständlern“, sagte Frambach. Viele Freunde des Theologen seien nicht religiös gewesen: „Bonhoeffer hat sich gefragt, warum die so sensibel, mitmenschlich, wach und engagiert waren, während er sehr Religiöse kannte, die ihn nicht überzeugten.“ Bonhoeffer habe sich gefragt, ob es eventuell auch religionslose Christen gebe. Ist die Religion die Bedingung des Heils? Braucht der Mensch die Religion? „Viele Aspekte braucht er nicht“, sagte Frambach. Er brauche die Essenz. Da sei die Aufhebung des egozentrischen Selektionprozesses zu nennen. Albert Einstein habe das so formuliert: „Das Wesen der Religion ist die Fähigkeit, sich in die Haut eines anderen zu versetzen.“ Und laut Albert Schweitzer muss sich jede Weltanschauung daran messen lassen, ob ihre Anhänger zu innerlichen Menschen mit einer tätigen Ethik werden.
Alte Muster wurden aufgebrochen
Pfarrerin Dorothee Schaper von der Melanchthon-Akademie zog ein positives Fazit. „Es ist uns gelungen, Menschen aus ganz verschiedenen Richtungen anzusprechen. Auch Menschen, die mit Kirche nicht so viel anfangen können, sind mit uns ins Gespräch gekommen. Alte Muster wurden aufgebrochen.“ Man habe den Blick richten können auf alle Zugänge zur geistlichen Existenz des Menschen aus theologischen und psychologischen Blickwinkeln. „Es war viel“, resümiert Pfarrerin Schaper. „Eine solche Tagung schaffen wir nicht jedes Jahr.“ Im Übrigen müsse man auch über den Termin Pfingsten noch mal nachdenken: „Immer mehr Menschen nutzen die Pfingst-Tage zu einem Kurzurlaub.“ Den gab es in der Trinitatiskirche für Geist und Seele.
Meister-Eckhart-Stele entstand 2007 auf einer Pfingst-Tagung
Jedes Jahr veranstaltet die Melanchthon-Akademie des Evangelischen Kirchenverbands Köln und Region eine Pfingst-Tagung. Das sind intensive, geistig anregende Tage, in denen die Teilnehmenden auch schon mal beschließen, zum jeweiligen Tagungsthema über den Tagungszeitraum hinaus aktiv zu werden. So entstand beispielsweise aus einer Tagung mit dem Titel „Vernunft der Mystik“ die Meister-Eckhart-Stele 2007 in der Nähe des Kölner Hauptbahnhofs, An den Doninikanern. Ein weiteres Markenzeichen der Tagungen sind nahmhafte Referenten wie Dr. Gerd Achenbach, Professor Dr. Michael von Brück, Profesor Dr. Marcel Martin, Dr. Christoph Quarch, Jo Schnorrenberg oder Professor Dr. Perry Schmidt-Leukel.
Foto(s): Stefan Rahmann