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„Kürzen im Gesundheitswesen? Amt für Krankenhausseelsorge lud ein

„Krank sein ist teuer und wird teurer. Die Medizin macht Fortschritte und kann immer mehr – aber das kostet auch. Wir werden älter, leben länger – und auch das kostet“, stellte Pfarrer Wolfgang Jacobs fest. Aber wie sei es bei den steigenden Kosten, dem Kostendruck um das Wohl der Patienten bestellt? Wie könne man angesichts begrenzter Mittel, von Budgetierung kranken Menschen gerecht werden? Jacobs leitet das Amt für Krankenhausseelsorge des Evangelischen Kirchenverbands Köln und Region. Dieses veranstaltete nun im Haus der Evangelischen Kirche die interdisziplinäre Tagung „Kürzen im Gesundheitswesen? – Ethische Konflikte“. Angegangen wurde das Thema aus theologischer, juristischer und medizinischer Perspektive. Die Begrüßung der über dreißig Teilnehmenden, darunter Mitarbeitende im Gesundheitswesen und in der Kirche, erfolgte durch Pfarrerin Andrea Vogel. Die Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises Köln-Rechtsrheinisch ist auf der Ebene der vier Superintendenten zuständig für die Krankenhausseelsorge. Und damit „zuständig für alle evangelischen Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorger in den vier Kirchenkreisen im Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region“, wie sie betonte.

„Die Wachstumsgrenze ist erreicht“
Im Namen des Veranstalters hieß Pfarrer und Krankenhausseelsorger Karsten Leverenz, stellvertretender Leiter des Amtes für Krankenhausseelsorge, die Teilnehmenden willkommen. Angesichts der „überschaubaren Runde“ äußerte er den Verdacht, „dass dieses Thema vielleicht noch sehr abstrakt, weit weg zu sein scheint“. Aber es sei notwendig, sich dem Thema Rationierung im Gesundheitswesen, das nicht nur etwa eine Begrenzung von Behandlungstagen, sondern auch die Einschränkung von „menschlicher Zuwendung“ betreffe, frühzeitig zu stellen. Nur dann sei man vorbereitet. „Wir sind zu 110 Prozent belegt“, so Prof. Dr. med. Ulrich Schultz-Venrath, Leiter der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Evangelischen Krankenhaus Bergisch Gladbach. „Die Wachstumsgrenze ist erreicht.“ Aber in seiner Funktion als Klinikchef könne er sagen, dass es wesentlich auch auf das Konzept ankomme. „Damit kann man ökonomische Knappheiten kompensieren.“

Gerechtigkeit im Gesundheitswesen
Bevor der Jurist Stefan Huster, Professor an der Ruhr-Universität Bochum, über „Rationierung im Gesundheitswesen, Probleme und Modelle“ referierte und der Mediziner Prof. Dr. Peter Sawicki „Alternativen zur Rationierung“ aufzeigte, sprach Jacobs aus theologischer Sicht über „Gerechtigkeit im Gesundheitswesen“. Der Krankenhausseelsorger und Ethikberater stellte Beispiele aus seiner Erfahrung und ihm übermittelten Praxis voran. Damit bestätigte er: Nicht jeder Patient kann von dem für ihn bestmöglichen Medikament profitieren. Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen werden anders behandelt als über private Kassen Versicherte. Grund für diese Ungleichbehandlung, ja Ungerechtigkeit und Benachteiligung, ist der wirtschaftliche Druck, ist das „liebe Geld“. Als einer der Schlüssel für die Problemlösung wird Rationierung genannt.

Gesundheitswesen mit Blick auf den theologischen Gerechtigkeitsbegriff
„Kann es Gerechtigkeit im Gesundheitswesen geben?“, fragte Jacobs, der zunächst „Gerechtigkeit“ in der Bibel und Theologie behandelte. „Ich mache den Versuch, aus theologischer Sicht etwas zu Gerechtigkeit zu sagen und das auf das Gesundheitswesen anzuwenden“, verwies er unter anderem auf die von der Evangelischen Kirche in Deutschland im Oktober herausgegebene Denkschrift „Und unsern kranken Nachbarn auch“. Darin nimmt die EKD Stellung zu aktuellen Herausforderungen der Gesundheitspolitik. „Als Theologe beziehe ich mich auf die Bibel“, betonte Jacobs. Doch weder die Bibel noch die Theologie hätten klare Handlungsanweisungen zur Frage der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Gleichwohl könnten sie einige Anhaltspunkte für Entscheidungen bieten. „Während die Medizin unterscheidet nach gesund-krank, die Ökonomie nach Zahlung-Nicht Zahlung, unterscheidet die Religion nach Immanenz-Transzendenz, in der Form der christlichen Religion etwas anders, nämlich nach Leben-mehr Leben.“ Damit stehe die theologische Unterscheidung mindestens zur Ökonomie in Spannung. Zu dem „mehr Leben“ zähle die Gerechtigkeit, in der Bibel ein zentraler Begriff. „Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Und in der Bibel ist der Begriff eng gekoppelt an das, was man als die Option für die Armen bezeichnet. Den Armen soll Gerechtigkeit widerfahren.“ Im Alten Testament fänden sich keine Gesetze zur Sicherung des Besitzstandes der Mächtigen und Starken, so Jacobs. „Das ist in den übrigen antiken Kulturen anders gewesen und unterstreicht das Eintreten für die Armen.“
Im Neuen Testament werde das Auftreten Jesu als Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung Gottes an die Armen gedeutet (Lk 4,18-21). „Im Gleichnis vom Weltgericht werden die Hungrigen, die Durstigen, die Fremden, die Nackten, die Kranken und die Gefangenen unmittelbar mit Christus selbst identifiziert (Mt 25,31-46)“, nannte Jacobs ein weiteres biblisches Beispiel. Und er stellte fest: „Der Sozialstaat hat religiöse Wurzeln in der biblischen Ethik.“

Wie definiert sich evangelische Ethik mit Blick auf das Gesundheitswesen?
„Was braucht ein kranker Mensch zu einem Leben in Würde?“, brachte Jacobs die evangelische Ethik ins Spiel. Sie sei „keine Prinzipienethik in dem Sinn, dass Prinzipien aufgestellt werden, die immer und überall Geltung haben“. Evangelische Ethik blicke auf den Einzelfall, den konkreten Fall, den konkreten Menschen. Sie frage, was braucht dieser kranke Mensch, um gesund zu werden oder mit der Krankheit leben zu können oder sich auf seine Endlichkeit einstellen zu können. Und sie frage, wie man ihm gerecht werde, diesem kranken Menschen mit seinen Bedürfnissen, Befindlichkeiten, seinen Ressourcen, seinen Ängsten und Nöten, seine Ansprüchen und Hoffnungen. „Evangelische Ethik ist bemüht, menschen- und situationsgemäß zu urteilen und so zu gerechten oder angemessenen Handlungsweisen zu kommen.“
Als „Dimensionen von Gerechtigkeit“ mit biblischem Bezug nannte Jacobs die Bedarfsgerechtigkeit, bei der es darum gehe, „Dienstleistungen so zuzuteilen, dass allen das Recht auf ein Leben in Würde ermöglicht wird“. Zweitens die „Gerechtigkeit als Gleichbehandlung: Aus der Gottebenbildlichkeit der Menschen folgt ihre Gleichheit, ihr gleicher Wert und damit ihre Gleichbehandlung und die Chancengleichheit.“ Das heiße übersetzt auf den Gesundheitsmarkt: „Jeder muss die gleichen Chancen haben, das zu bekommen, was er zu seiner Behandlung braucht, egal, ob er Kassen- oder Privatpatient ist.“
Bedeutsam weitere Dimensionen der Gerechtigkeit ohne biblischen Bezug seien die Verteilungsgerechtigkeit oder soziale Gerechtigkeit und die Funktionsgerechtigkeit. Die eine meine „die gerechte Verteilung von Dienstleistungen unter maßvoller Berücksichtigung von Leistung und Bedarf mit dem Ziel des sozialen Ausgleichs“. Die andere „die gerechte Zuordnung subjektiver Bedürfnisse und sachgemäßer sowie institutioneller Anforderungen“, wobei „das Recht des Einzelnen in Spannung zum Recht der Gemeinschaft (steht), nicht überfordert zu werden“.

Was ist unter den gegebenen Verhältnissen angemessen?
Angesichts der Realität in unserem Gesundheitssystem, in der anscheinend nicht jeder bekomme, was er brauche, forderte Jacobs ein Nachdenken darüber, „was denn unter den gegebenen Verhältnissen angemessen ist“. Ebenso nannte er es eine gesellschaftliche Aufgabe, „Krankheit als Teil des Lebens und die Endlichkeit des Lebens anzuerkennen und anzunehmen. Als Patient und als Behandler. Gesundheit und langes leben haben einen so hohen Stellenwert, dass das Akzeptieren der Begrenztheit immer seltener wird. Hier stehen ganz konkret subjektive Bedürfnisse und sachgemäße, der Einsicht in die Begrenztheit menschlichen Lebens geschuldete Erfordernisse in Spannung zueinander.“ Es müsse Kriterien geben, die festlegten, „was wann getan werden soll und kann“. Als Theologe sei er „an Transparenz der Kriterien interessiert, damit alle wissen, wie alle gleich behandelt werden“. Gleichwohl bedürfe es Kriterien mit Spielräumen für Individuelles sowie für Handlungsentscheidungen, die begrenzten Ressourcen geschuldet seien. Jacobs fragte auch danach, wie angesichts begrenzter Mittel und Zeit Prioritäten, „die gerecht sind“, festgelegt werden könnten. Und er zitierte aus der EKD-Denkschrift: „Eine offene wert- und kriteriengestützte Priorisierung muss heute als eine Determinante des verantwortungsvollen Umgangs mit begrenzten Ressourcen gelten.“

Solidarität, Klarheit und „Gemeinschaftstreue“
Obwohl es „gute Gründe für alle möglichen Lösungen“ gebe, hofft Jacobs, dass letztlich Entscheidungen einer Verantwortungsethik folgten, „die die Situation berücksichtigen und die Handlungsfolgen, die argumentativ strittige Normen begründen, die normativ-moralische Aussagen berücksichtigen und die von den Entscheidern verantwortet werden“. Aus theologischer Sicht gerecht im Gesundheitswesen nannte er: „Wenn Solidarität oder Gemeinschaftstreue praktiziert wird. Wenn transparent ist, nach welchen Kriterien eine Behandlung erfolgt oder unterbleibt. Wenn der konkrete Mensch in seiner individuellen Lage im Blick ist.“ Schließlich: „Wenn jeder bekommt, was er braucht bei einer klaren Indikation.“ Schließlich hob Jacobs die Notwendigkeit einer Kommunikationskultur in den einzelnen Krankenhäusern hervor, „die ethisch reflektiert, was medizinisch und pflegerisch geboten ist, um dem einzelnen Patienten gerecht zu werden“. Die Krankenhausseelsorge leiste an vielen Stellen ihren Beitrag dazu. „In der Person der Seelsorgerin oder Seelsorgers ist ethische Kompetenz im Haus vertreten, die zunehmend auch in Anspruch genommen wird. Doch Ethik darf nicht auf Seelsorge begrenzt sein, sondern gehört als Handwerkszeug in den Alltag eines Krankenhauses.“

Stimmen der Teilnehmenden
In der anschließenden Diskussion schlug eine Teilnehmerin vor, nicht nur darüber zu sprechen, „was ein Patient bekommt, was er braucht“, sondern „das er nicht bekommt, was er nicht benötigt“. „Da geht es doch ums Geldverdienen. Ich halte es für eines der wichtigsten Themen im Gesundheitswesen, dass unermessliche Summen für unnötige Untersuchungen ausgegeben werden.“ Ein anderer Teilnehmer betonte, dass es durchaus Sinn mache, wenn Mediziner stärker auch in verantwortungsvollem ethischem Handeln ausgebildet würden. Jacobs bedauerte, dass dies nach seiner Erfahrung, „soweit ich das überblicken kann“, noch unterentwickelt sei.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Broich