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Beate Commer ist Religions- und Sozialpädagogin.

Krisenkommunikation: „Kinder sind ängstlich, wenn die Bezugspersonen ängstlich sind“

„Das Böse und das Unglück existieren. Kinder haben ein Recht auf Wahrheit, auch wenn sie manchmal weh tut“, sagt der französische Schriftsteller Claude Roy. Aber Kinderfragen zu Krisen und Katastrophen oder auch zu Tod und Sterben sind eine besondere Herausforderung für Erwachsene – vor allem, wenn sie uns mit eigenen Unsicherheiten und Ängsten konfrontieren. Die Religions- und Sozialpädagogin Beate Commer bietet in der Evangelischen Familien Bildungsstätte Köln (FBS) Kurse zum Thema „Mit Kindern über Krisen und Katastrophen sprechen“ für Eltern und Erzieherinnen und Erzieher an. Mit Beate Commer sprach Frauke Komander.

Reagieren Kinder anders auf Krisen und Katastrophen als Erwachsene?

Ja. Um den Unterschied zu verdeutlichen, starte ich in den Kursen mit einer Imaginationsübung. Die Teilnehmenden sollen sich vorstellen, dass sie in einem Land Urlaub machen, das ihnen völlig fremd ist und dessen Sprache sie nicht beherrschen. Sie sitzen alleine in einer Kneipe mit sonst nur einheimischen Gästen. Plötzlich werden diese unruhig. Ihre Stimmen werden immer lauter und hektischer. Alle deuten aufgeregt auf ein Fernsehgerät, wo Explosionen zu sehen sind. Dann stürmen Leute von draußen herein, die die ebenfalls panisch durcheinander schreien. Die Teilnehmenden sollen anschließend Begriffe zu drei Fragen notieren: Welches Gefühl spüren Sie in der Situation? Welche Frage hätten Sie und wem würden Sie sie stellen? Welches Bedürfnis hätten Sie? Im anschließenden Austausch wird deutlich, dass die Teilnehmenden Unsicherheit oder Angst verspüren würden. Allerdings nicht wegen des Ereignisses selbst, das verstehen sie ja nicht, sondern aufgrund des Verhaltens ihrer Umgebung. So ähnlich ist das bei Kindern. Die Bedeutung und Konsequenz einer Krise oder Katastrophe erfassen sie aufgrund der fehlenden Erfahrung und kognitiven Reife nicht oder nur bedingt. Sie reagieren vielmehr auf die Gefühlslage ihres Umfeldes und auf Veränderungen ihrer Umgebung. Verkürzt: Kinder sind ängstlich, weil ihre Bezugspersonen ängstlich sind. Wenn Teilnehmende diese Auswirkungen auf die Kinder sehen ist die Motivation größer, sich selbst Hilfe zu holen, wenn sie merken, dass sie selbst überfordert sind mit der Krise.

Gibt es typische Verhaltensmuster, in die ein Kind bei Krisen und Katastrophen verfällt – vielleicht anders als ein Erwachsener?

Der größte Unterschied zu Erwachsenen liegt darin, dass Kinder ihre Verunsicherung oder Ängste nicht oder nicht ausreichend verbalisieren können. Sie zeigen dies eher durch ihr Verhalten. Säuglinge schreien vermehrt oder schlafen schlechter. Bei Kindergartenkinder äußert sich Verunsicherung in Bauchweh, Schlaf- oder Essstörungen. Sie jammern vielleicht häufiger, sind weinerlicher oder streiten häufiger. Auch Schulkinder können oft noch nicht differenziert über ihre Besorgnis reden. Sie zeigen dies dann ebenfalls non-verbal beispielsweise mit Rückzug, diffuser Ängstlichkeit, Deprimiertheit, Aggressionen. Sogar Zwangsstörungen können sich entwickeln.

Einige Erwachsene tendieren vielleicht eher zum Verschweigen, weil sie glauben, dass Kinder die Situation nicht verstehen – wie viel Offenheit ist angebracht?

Durch die Imaginationsübung wird den Teilnehmenden schnell deutlich, wie beängstigend es ist, wenn alle um einen herum aufgeregt und verunsichert sind, man selbst aber nicht versteht was denn los ist, weil es einem niemand erklärt. Es ist also nicht die Frage, ob wir mit Kindern sprechen, sondern wie. Als Hilfe für Gespräche mit Kindern gebe ich eine Art vierseitigen „Bilder“-Rahmen vor. Die erste Seite ist „ehrlich“ – das bedeutet nicht überfordernd und „vor den Latz geknallt“, sondern – und das ist die zweite Seite – „beruhigend/hoffnungsvoll“. Die dritte Seite ist „altersgerecht“. Die vierte Seite ist „wahr“, was nicht das Gleiche wie „ehrlich“ ist. Sondern meint, dass die Erwachsenen keine Spekulationen oder Gerüchte einbringen.

Wieviel Wahrheit erträgt ein Kind?

Wenn Kinder beispielsweise fragen: „Können auch Kinder an Corona sterben?“ sollte man nicht ausweichen, sondern ehrlich, beruhigend, altersgerecht und wahr antworten. Zum Beispiel „Ja, aber das passiert sehr, sehr selten.“ Damit Kinder dieses „selten“ besser verstehen, kann man es bildhaft darstellen, zum Beispiel eine ganze Tüte voller Gummibärchen nehmen, und sagen, dass die Möglichkeit so winzig ist, wie ein Füßchen von einem der vielen Gummibärchen. Man kann sagen, dass wir Möglichkeiten haben uns zu schützen, zum Beispiel mit Masken und mit guter Handhygiene, und dass wir gute Ärzte und gute Medikamente haben.

Was mache ich mit Fragen, auf die ich selbst keine Antwort habe?

Wichtig ist, dass Erwachsene sich nicht als „Antwortautomaten“ verstehen, sondern ehrlich sagen, wenn sie etwas nicht wissen. Zum Beispiel auf die Frage „Was ist denn, wenn Corona nie mehr weggeht?“ offen sagen: „Ich weiß nicht, ob die Pandemie bleibt. Aber wir Menschen sind erfinderisch und sehr anpassungsfähig und werden Ideen haben. Wir haben auch gute Ärzte und Forscher, die Medikamente entwickeln werden, es gibt mittlerweile schon so viele Impfungen“. Wenn Kinder Fragen haben, sollten Erwachsene das immer als Chance für eine wirkliche Gesprächssituation nehmen: Was denkst du denn? Was glaubst du? So erfahren sie mehr darüber, was das Kind wirklich bewegt und was es wirklich wissen will.

Wie finde ich die richtigen Worte?

Erwachsene sollten darauf achten, was und wie viel das das Kind wirklich wissen will. Aber wichtig ist auch, sich bewusst zu sein, dass hinter Fragen und Gesprächswünschen eines Kindes vor allem das Bedürfnis steht, dass jemand für es da ist. In „Krisen“-Gesprächen sollte deswegen immer die zentrale Frage hinter allen Fragen mitbeantwortet werden. Die lautet: „Bin ich in Sicherheit?“ Das meint nicht „Bin ich unverwundbar?“, sondern „Bin ich allein oder geht jemand mit mir?“ Kinder haben wenig Kontrolle über ihr Leben und deswegen brauchen sie von uns die Gewissheit: „Egal was passiert, egal wie schlimm es wird, ich oder ein anderer wird bei dir sein und dir helfen.“

Wer gehört zu den Teilnehmenden Ihrer Kurse?

Eltern und Erzieher und Erzieherinnen.

Was ist der Unterschied zwischen Krisen und Katastrophen?

Eine Krise ist eine Art Schwebezustand, in dem sich noch nicht entschieden hat, ob es gut oder schlecht ausgeht, also in einer Katastrophe endet. Eine schwere Krankheit ist eine Krise. Wenn der Mensch daran verstirbt, ist es eine Katstrophe. Wir befinden uns durch die Pandemie momentan gesamtgesellschaftlich in einer Krise. Eine Katastrophe kann es dennoch für mich persönlich sein. Zum Beispiel durch den Tod von Angehörigen oder den Verlust des Arbeitsplatzes.

Wie sind Sie zu dem Thema „Mit Kindern über Krisen und Katastrophen sprechen“ gekommen?

Ich bin seit vielen Jahren als Bildungs-Referentin tätig und habe dieses Thema vor 20 Jahren im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das World-Trade-Center erarbeitet. Damals gab es viele Fragen von Eltern und ErzieherInnnen, ob und wie man mit Kindern über solche Gewalttaten spricht. Das Thema war dann über viele Jahre nicht sehr gefragt, ist aber aufgrund der Pandemie stark in den Fokus gerückt.

Gibt es schon weitere Seminar-Termine?

Momentan sind noch keine weiteren Termine festgelegt, aber das Thema kann beispielweise für Elternabende bei der FBS angefragt werden.

Text: Frauke Komander
Foto(s): privat