„Wir müssen das, was sich in der Gemeindediakonie vollzieht, in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rücken“
KONTROVERS: Herr Direktor Becker, Sie sind seit dem 1. Oktober 2004 Theologischer Direktor und Sprecher des Vorstandes des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche im Rheinland. In welche Richtung werden Sie die Weichen Ihrer Arbeit stellen?
BECKER: Zunächst gibt es eine Vorgabe, was die Funktionalität unseres Werkes anbelangt. Sie ist dreigliedrig. Wir sind ein kirchliches Werk, ein Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege und wir sind ein eingetragener Verein, der die Interessen seiner Mitglieder zu vertreten hat. Das ist das „Spielfeld“, auf dem auch ich mich bewege. Was ich aufgrund meiner Erfahrung und bisherigen Tätigkeit mitbringe, ist ein vitales Interesse daran, dass alle drei Bereiche durchdrungen werden von der Leitfrage: Wo werden Menschen in unserer Gesellschaft tendenziell oder offensichtlich von einer würdevollen Teilhabe an unserer Gesellschaft ausgeschlossen? Das ist eine Frage, die von der Ausgestaltung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes über das Zuwanderungsgesetz bis zum SGB II analytisches Denken in unserem Hause abverlangt. Die nächste, strategische Frage muss sein: Wie müssen wir unsere Arbeit dynamisch daran orientieren, einen Beitrag dazu zu leisten, dass diese Strukturen sozialer Ungerechtigkeit beseitigt werden.
Eine zweite, zu legende Weiche ist unsere Profilierung als kirchliches Werk. Wir müssen das, was sich innerhalb der Gemeindediakonie und auf Kirchekreisebene gegenwärtig an Umbruch vollzieht – etwa die Schließung von Kindertagesstätten, Schuldenberatungsstellen oder Beschäftigungsträgern – in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rücken, weil es hier um elementare diakonische Lebensäußerungen der Gemeinde geht, die ich, nicht zuletzt theologisch betrachtet, für unverzichtbar halte.
Zum Diakoniegesetz: „Wir können uns nicht länger Zerrissenheit leisten“
KONTROVERS: Nach 42 Jahren Gültigkeit hat die Landessynode in Bad Neuenahr ein neues Diakonie-Gesetz verabschiedet. Was gab den Anstoß dafür und worin unterscheidet sich die neue Gesetzes-Fassung von der aus dem Jahr 1963?
BECKER: Damit sprechen Sie die dritte Weichenstellung an. Der Vorstand des Diakonischen Werkes und die Kirchenleitung haben sich schon lange um eine Novellierung des Diakoniegesetzes bemüht. Das Entscheidende des neuen Gesetzes ist die Bildung regionaler Arbeitsgemeinschaften der Diakonie. Wer diese als Sprecher vertritt, hat die Synode bewusst offen gelassen, um hier nicht Vorentscheidungen zu treffen, die regional geklärt werden müssen. Damit beschreibt das Gesetz die Realität, die geprägt ist vom Wettbewerb und teilweise auch massiver Konkurrenz zwischen diakonischen Trägern und Diakonischen Werken der verfassten Kirche. Jetzt ist aber – so hoffe ich – die Zeit des unabgesprochenen Nebeneinanders vorbei, von jetzt an werden sich alle Träger diakonischer Einrichtungen in einer Region an einem Tisch setzen. Wir können uns nicht länger Zerrissenheit leisten.
Ich gehe davon aus, dass die Geschäftsstelle moderierende Funktion übernehmen und Hilfe bei der Erarbeitung der jeweiligen Satzungen leisten wird.
KONTROVERS: Die Caritas im Erzbistum Köln hat seit Jahresbeginn rund 800 „Ein-Euro-Jobs“ geschaffen und beurteilt die ersten Erfahrungen überaus positiv. Wie ist Ihre Haltung zu diesem arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium?
BECKER: Was die Caritas anbelangt, so vermag ich nicht zu beurteilen, wie sie 20 Tage nach Beginn dieser Maßnahmen schon zu einer positiven Bilanz kommen kann. Ich habe mehrfach deutlich gemacht, dass ich ein grundsätzlicher Kritiker dieser Mehraufwandsentschädigungen, wie es im Fachjargon heißt, bin. Ich kann das in der gebotenen Kürze nur in Stichworten begründen: Diese so genannten „Ein-Euro-Jobs“ sind das schwächste Arbeitsmarktinstrument seit der Nachkriegszeit, das aber am lautesten als Lösungsangebot zur Bekämpfung der Arbeitsmarktkrise kolportiert wird. Obwohl sie kein Arbeitsverhältnis begründen und auch nicht den inhaltlichen Charakter von Arbeit haben sollen, wird ihre Aufnahme erzwungen und basiert nicht auf Freiwilligkeit. Maßnahmen und Trägerstrukturen, die nicht unmittelbar der Arbeitsmarktintegration dienen, aber immerhin einen substanziellen Beitrag zur sozialen Integration leisten, drohen dagegen zerschlagen zu werden. Es bleibt abzuwarten, ob diese Jobs nicht doch zu einem Verdrängungswettbewerb auf dem Ersten Arbeitsmarkt führen werden. Schließlich wird die Arbeitslosenstatistik unseriös bereinigt, weil die Personen, die Arbeitslosengeld II beziehen und in diese „Ein-Euro-Jobs“ gedrängt werden, aus der Arbeitslosenstatistik herausfallen.
„Ich bin strikt gegen die Preisgabe der Freiwilligkeit, zumal damit die These untermauert wird, man müsse vorrangig arbeitslose Menschen aus ihrer Trägheit befreien.“
Ich bin nicht gegen das „Angebot“ von solchen Jobs. Es gibt arbeitslose Menschen, die froh sind, wenn sie ein wenig hinzu verdienen, neue soziale Kontakte finden und möglicherweise etwas mehr Beanspruchung erfahren. Aber ich bin strikt gegen die Preisgabe der Freiwilligkeit, zumal damit die These untermauert wird, man müsse vorrangig arbeitslose Menschen aus ihrer Trägheit befreien. Im Einzelfall, gerade bei Menschen über 50, die sich mehrfach erfolglos beworben haben und nur wegen ihres Alters keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden, grenzt das an Zynismus.
„Wir brauchen mehr denn je einen soliden zweiten Arbeitsmarkt.“
KONTROVERS: Es gelingt mit diesen Arbeitsgelegenheiten Leute von der Straße zu holen. Doch muss das Augenmerk nicht viel stärker auf die berufliche Förderung gerichtet werden?
BECKER: Gerade bei Maßnahmen der Wohlfahrtsverbände wird in der Regel sehr darauf geachtet, dass eine solide Qualifizierung – allerdings im Rahmen gering qualifizierter Tätigkeit – stattfindet. Richtig ist: Die Tätigkeiten, die angeboten werden, müssen den Charakter der Zusätzlichkeit und eben nicht den der Erwerbsarbeit haben. Das wirft die Frage nach dem Qualifikationsniveau auf, das – bei allen Anstrengungen – überhaupt erreicht werden kann. Eines unserer Hauptprobleme auf dem Arbeitsmarkt ist doch, dass wir stetig ansteigende berufliche Anforderungsprofile haben, mit denen einfach und gering qualifizierte Menschen nicht Schritt halten können. Gleichzeitig wird im gering qualifizierten Bereich ständig abgebaut. Was wir brauchen, ist also wesentlich mehr berufsbezogene Förderung, um Menschen zu besseren Schlüsselqualifikationen zu verhelfen. Und wir brauchen mehr denn je einen soliden zweiten Arbeitsmarkt. Das wäre der richtige Beitrag für mehr Beteiligungsgerechtigkeit. Stattdessen wird nur noch von Chancengerechtigkeit geredet und an die Eigenverantwortung appelliert. Faktisch gemeint ist aber ein Abbau von Fördermitteln, insbesondere in der berufsbezogenen Bildung.
Einstellungsrisiko für Unternehmen muss überschaubar werden
KONTROVERS: Die Diakonie hat in der Vergangenheit Arbeitslose durch zahlreiche Beschäftigungsinitiativen bereits für den Arbeitsmarkt qualifiziert. Wie soll eine Förderung darüber hinaus aussehen?
BECKER: Das Diakonische Werk im Rheinland und die Landeskirche finanzieren seit mehr als 25 Jahren den Arbeitslosenfonds, der diesen Beschäftigungsträgern zugute kommt. Das ist aber nur flankierende Hilfe. Wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen des SGB II die Fördermittelstruktur einbrechen lassen, können wir das nicht auffangen. Ich trete für eine enge Kooperation von Beschäftigungsträgern und Unternehmen ein. Die Beschäftigungs- und Qualifizierungsträger sollen eng am Anforderungsprofil der Unternehmen qualifizieren, und die Übernahme in reguläre Beschäftigung für die Personen, die qualifiziert worden sind, muss stärker subventioniert werden, damit das Einstellungsrisiko für die Unternehmen überschaubar ist. In solchen Fällen bin ich auch durchaus für eine – aber eben nur auf diese Fälle begrenzte – Lockerung des Kündigungsschutzes.
Helga Holz hat das Interview per E-Mail mit Diakonie-Direktor Uwe Becker geführt.
Foto(s): Rahmann