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Kollektive Traumata und Friedenschancen im Nahen Osten

„Das Bedürfnis nach Sicherheit auf allen Seiten bestimmt unverändert das Leben in Israel und Palästina“, stellte Pfarrerin Katja Kriener in ihrer Begrüßung die Aktualität des Gastvortrags von Christian Sterzing an der Melanchthon-Akademie heraus. Die Mitarbeiterin der Akademie des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region zeigte sich vor rund 40 Besuchenden hocherfreut, dass sie mit dem Rechtsanwalt und Sozialpädagogen, Publizist und Autor einen ausgewiesenen Kenner der Materie habe gewinnen können.

Kenntnisreiches Referat
Seit Jahrzehnten schon engagiere Sterzing sich für den Frieden im Nahen Osten. Nachdem dieser von 1994 bis 2002 für die Partei Bündnis90/Die Grünen im Deutschen Bundestag saß, leitete er von 2004 bis 2008 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung e.V. in Ramallah/Palästina. Von 1977 bis 2010 war er Mitglied im Vorstand des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten und Redakteur der Zeitschrift „israel & palästina“. Zahlreiche Veröffentlichungen zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Nahen Osten belegen seine Kompetenz. Kenntnisreich fiel nun auch sein Referat „Konkurrenz der Opfer? – Kollektive Traumata und Friedenschancen im Nahen Osten“ aus, in dem er Hintergründe wie Lösungsbedingungen des Nahost-Konflikts darlegte.

Zwei verschiedene Erinnerungen
Sterzing konstatierte zunächst die maßgebliche unterschiedliche Wahrnehmung des Palästinakrieges 1948/49. Der Erste Arabisch-Israelische Krieg gelte in Israel als Unabhängigkeitskrieg und werde als Geburtsstunde des jüdischen Staates gefeiert. Dagegen bezeichneten die Palästinenser diesen Krieg, der für sie Vertreibung und Flucht bedeutet habe, als Nakba – als Katastrophe. Diese zwei sehr verschiedenen Narrative (Erinnerungen) des einen Ereignisses gehörten seitdem zur politischen Identität und Kultur beider Gesellschaften, stellte der 62-Jährige fest. Auch die Nakba auf der palästinensischen Seite stelle „ein historisches Ereignis und eine kollektive Erfahrung“ dar, „das noch heute traumatisch die Wahrnehmung der Gegenwart und das friedenspolitische Handeln prägt“.

Zuerst „meine Geschichte“ erzählen
Sterzing setzte bald drei „Schlaglichter“. Er wies hin auf drei nichtstaatliche Einrichtungen, die sich um ein Aufbrechen dieses Zustandes bemühen, um gegenseitiges Verständnis der Konfliktparteien. Zum einen nannte er „Zochot“ (Erinnerung), eine israelische Organisation, die wesentlich das Ziel verfolgt, in der israelischen Gesellschaft über die Nakba aufzuklären. Zweitens das „Arab Institute for Holocaust Research and Education“. Dabei handelt es sich um ein (kleines) Holocaust-Museum, das 2005 in Nazareth durch den Rechtsanwalt Khaled Kasab Mahameed gegründet worden ist. Der Araber mit israelischem Pass will im palästinensischen Gebiet über den Holocaust aufklären: „Wer den Holocaust nicht begreift, kann Israel nicht verstehen.“ Drittens erwähnte Stering das israelisch-palästinensische nichtstaatliche Friedensforschungsinstitut „Peace Research Institute in the Middle East“, kurz PRIME. Gegründet vom israelischen Psychologen Dan Bar On und palästinensischen Erziehungswissenschaftler Sami Adwan zielt es auf die Förderung der Verständigungsarbeit. Dabei verfolgt PRIME die Methode des „Storytelling“, des Geschichteerzählens: Bevor etwas Gemeinsames wachsen kann, muss ich zunächst meine Geschichte erzählen und die der anderen anhören. Um eine friedliche, dauerhafte Konfliktlösung zu erreichen ist laut Sterzing nämlich schon auf dem Weg dahin Folgendes unerlässlich: Auf beiden Seiten die Bedeutung der Vergangenheit, die Wahrnehmung der Vergangenheit klären. Verständnis für die eigene und die andere Vergangenheit entwickeln. Bereitschaft wecken für eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Gegenüber.

Poetische Verarbeitung des Kriegs
Aber daran mangele es gravierend, verdeutlichte Sterzing unter anderem anhand einer Studie von „Zochot“ zum Thema Flucht und Vertreibung der Palästinenser in der israelischen Lyrik. In dieser poetischen Verarbeitung des Unabhängigkeitskrieges „wird ein großer Bogen um Fragen der Schuld gemacht“. Weder sei von Kriegsfolgen allgemein die Rede, noch speziell von der Vertreibung von Palästinensern. Deren Dörfer würden als verlassen beschrieben: Warum sie verlassen stehen, weshalb ihre ehemaligen Bewohner abwesend sind, werde nicht erwähnt. In dieses Bild passe ebenso die Streichung des Begriffs Nakba in den israelischen Schulbüchern. Auch würden in Israel Landkarten herausgegeben, in denen keine Spur von den zahlreichen 1948 zerstörten palästinensischen Dörfern zu finden sei. Arabische Namen von Dörfern würden nicht genannt oder hebräisiert. Ein Spiegelbild dieser Haltung, die Sterzing als eine „nationale Leugnung“ bezeichnet, sieht er auf der palästinensischen Seite. Das betreffe unter anderem die Darstellung der eigenen wie israelischen Geschichte in palästinensischen Schulbüchern. Die israelische werde bestenfalls nicht erwähnt, häufig aber falsch dargestellt. Die palästinensische dagegen gerate zu einer Opfergeschichte. Sie werde begründet mit dem Zionismus und europäischen Imperialismus.

Verschiedene Ansprüche
Dieser Umgang mit der eigenen Geschichte und der konkurrierenden Konfliktpartei belege, dass Geschichtsschreibung keine Aneinanderreihung von Fakten und Daten sei. „Sie reflektiert weder vorbehaltlos noch absichtslos.“ Mit ihr sei stets ein Zweck verbunden. „Man soll ja aus der Geschichte lernen.“ Man wolle ein Kollektiv und Identität schaffen, das Volk dahinter zusammenführen. Geschichte, so Sterzing, sei gerade in Konfliktregionen von besonderem Interesse. „Wir müssen uns verabschieden von der Existenz einer ausgewogenen Geschichtschreibung. Sie dient immer auch nationalen, ideologischen Zwecken.“ Rückgriffe wirkten nach außen und innen. Dabei sollten wir weniger von Geschichte reden, als von kollektiven Erzählungen bestimmter Wahrnehmungen von Ereignissen und Einschätzungen. „Die nationale Geschichtsschreibung soll die eigenen Ansprüche legitimieren“, erläuterte Sterzing. „Das bedeutet die Delegitimierung der anderen Ansprüche. Denn die anderen Ansprüche stellen die eigenen in Frage.“

Aus der Geschichte lernen
Das israelische Narrativ bleibe nur verständlich vor dem Hintergrund der Schoa, so Sterzing. „Aus der Geschichte lernen bedeutet aus der Schoa lernen“, betonte er den zionistischen Ansatz, nachdem „nur in einem jüdischen Staat jüdisches Leben und Selbstbestimmung möglich“ sei. Dies sei die logische Konsequenz der Diaspora der Juden und Reaktion auf den Antisemitismus. Die kollektive Erinnerung setze voraus, dass Assimilation und Anpassung illusorische Auswege aus der Diaspora gewesen seien. Entsprechend führe alles andere als ein eigener Staat irgendwann zu Antisemitismus. „Dieses Narrativ ist in Israel tief verwurzelt.“ Die Staatsgründung empfinde man als Befreiungs- und Erlösungsakt. Aber angesichts der Verhältnisse im Nahen Osten habe die Staatsgründung nicht das Ende des Antisemitismus gebracht.

Opferrolle lebt weiter
Sterzing sieht im politischen Israel der Gegenwart das Opferbewusstsein zur Staatsräson erhoben: Die Opfer, die Juden, blieben dieselben, die Täter, ob Deutsche, Palästinenser oder andere, wechselten. Und diese Opferrolle lebe weiter durch Vergleiche mit geschichtlichen Ereignissen. So werde im Rahmen der aktuellen Frage, wie man auf Atombomben in den Händen des Irans regieren solle, deutlich Bezug genommen auf die im Zweiten Weltkrieg unterlassene Bombardierung der Eisenbahngleise, die in die Vernichtungslager führten. Die Opferwahrnehmung kulminiere in der Schoa-Wahrnehmung, die geübt, behandelt, politisch instrumentalisiert werde, zitierte der Referent den israelischen Historiker Moshe Zimmermann. „Das ist nicht immer so gewesen“, nannte Sterzing den Eichmann-Prozess als Auslöser. Zuvor sei die Gründung Israels eng verbunden worden mit dem Bar-Kochba-Aufstand (132 bis 135 n. Chr.) gegen die römischen Besatzer.

Kein Vergleich von Shoa und Nakba
„Die palästinensische Erinnerung ist ähnlich.“ Die Nakba habe sich zu einem Trauma entwickelt. Keinesfalls ließen sich Shoa und Nakba vergleichen, betonte Sterzing. Aber die daraus erwachsenen Wahrnehmungen schon. „Palästinenser sehen sich als Opfer des europäischen Imperialismus.“ Sie müssten letztlich den Preis zahlen für die Ermordung der Juden. Die Erinnerung an die Nakba werde am Leben gehalten, auch mit Symbolen. Etwa dem Haustürschlüssel unter dem Kopfkissen, der Schlüssel für die Eingangstür des zerstörten oder aufgegebenen Heimes im besetzten Gebiet. „Die palästinensische Geschichte als Opfergang“ – diese Wahrnehmung ziehe sich wie ein Roter Faden durch deren Historie. Sie bilde einen festen Bestandteil ihrer politischen Argumentation. Mit Blick auf die deutsch-polnische Geschichte erläuterte Sterzing, dass für eine Friedenslösung zwei Voraussetzungen notwendig seien: die Beendigung des Konfliktes und die historische Distanz.

Problem liegt im „kollektiven Narrativ“
Beide Seiten bestünden auf der Opferrolle, weil sie entlaste. Sie enthebe die Opfer von gegenwärtiger Verantwortung für das eigene Tun. Das bringe politisch-moralische Vorteile. Es mache Sinn, auf der Opferrolle zu bestehen, weil sie nationale Identität und nationale Solidarität schaffe. Sie bilde ein Wahrnehmungsraster, in das sich alle einsortieren lasse. Das führe natürlich zu einer selektiven Wahrnehmung. Empathie für die Leiden des Konfliktpartners könnten nur schwer entwickelt werden. Man schlage sich die Massaker um die Ohren, sei nicht in der Lage, das Leid zu verstehen, nachzuvollziehen und zu akzeptieren. So greife jede Konfliktlösung in das kollektive Identitätsbewusstsein ein. Laut Sterzing verstecke sich der Kern des Problems im kollektiven Narrativ: Die Opfergeschichte der Palästinenser, die nicht anerkannt werde. Es sei wichtig, dieses Problem im Friedensprozess zu thematisieren. „Im Friedensprozess ist aber nicht die Rückkehr der Palästinenser das zentrale Problem, sondern die Anerkennung der Flüchtlinge als Opfer, die Anerkennung der Vertreibung als Unrecht.“

Symbolische politische Akte
Das historische Mandatsgebiet sei für beide Völker Heimat und in der Erinnerung verwurzelt. Es gehe nicht nur um Grenzen, um Gebietsansprüche, um die Okkupation eines Landstriches. Der Konflikt sei Ausdruck konkurrierender Ansprüche. Wenn in einer Konfliktregelung diese Ansprüche mitbedacht würden, bestehe die Chance auf eine dauerhafte Friedenslösung, so Sterzing. Dabei müssten die kollektiven Traumata schon auf dem Weg dahin berücksichtigt werden. Es gelte alles zu vermeiden, was diese Traumata wieder belebe. Stattdessen müsse alles getan werden, um die eigene Wahrnehmung, die eigene Erinnerung in Frage zu stellen. Sterzing betonte die Bedeutung einer kritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte, wie sie etwa durch diverse israelische und palästinensische Historiker, Soziologen, Politologen und andere erfolge. Eine wesentlich Rolle auf dem Weg zu einer dauerhaften Friedensregelung spielten insbesondere Dialogruppen. Gruppen, die auch die kollektiven Traumata zum Gegenstand ihres Gesprächs hätten. Nicht zu überschätzen seien gerade diese zivilgesellschaftlichen Kontakte. Ebenso wichtig seien symbolische politische Akte. Sie trügen zur Vertrauensbildung bei. „Wir haben es mit einem asymmetrischen Konflikt zu tun“, meinte Sterzing. „Ohne Hilfe von außen gibt es für diesen Zustand keine Lösung. Wir haben einen verhandlungslosen und gesprächlosen Zustand zu beenden.“ In diesem Zusammenhang bleibe es wichtig, dass zivilgesellschaftliche Organisationen die Zeit nutzten für Verständigungsarbeit.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich