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„Kölns kleine Leute. Geschichten und Portraits“

Es wird nicht überraschen: Dieses Werk handelt nicht von Menschen klein von Wuchs. Im Mittelpunkt stehen Übersehene, Unerwähnte, Verfolgte, Außenseiter und (oft namenlose) Leidtragende, aber auch „schräge Typen“, Lebenslustige und Mutmachende: Solche und viele weitere Menschen sind in Klaus Schmidts neuer Publikation versammelt. „Kölns kleine Leute. Geschichten und Porträts“ ist im Greven Verlag erschienen. Dessen Geschäftsführer Damian van Melis spricht von einem „politischen Statement“. Tatsächlich unterstreicht Schmidt mit der Themenwahl einmal mehr sein Interesse an den Menschen „da unten“, sein Engagement für die „einfachen Menschen“. Mangels „verbindlicher Definition“ des Begriffs „kleine Leute“, so leitet Schmidt ein, beschränke er sich in seinem neuesten Buch „im Wesentlichen auf Menschen, die nicht durch Reichtum privilegiert sind oder als Zunftmitglieder, als Funktionäre (…) eine gewisse Machtstellung haben“. Eben solche, die aus kleinen, bescheidenen Verhältnissen stammen. Aber das greift zu kurz.

Solidarität mit den Leuten „von unten“
Schaut man sich die Liste der Porträtierten an, reicht sie weit über nur „soziale Rand- und Armutsexistenzen“ hinaus. Sicher sind es Bettler und Mägde, Scharfrichter und als „Hexen“ verfolgte Frauen, es sind Müllmänner, Karrenschieber, „fliegende Händler“ und streikende Arbeiterinnen, von denen Schmidt erzählt. Aber er subsumiert unter dem Begriff beispielsweise auch Opfer von Verfolgung, Zwangssterilisationen und Zwangsarbeit sowie Mitglieder von Widerstandsgruppen im „Dritten Reich“. Ebenso nimmt er die Familie des Schriftstellers Günter Wallraff in den Blick oder die Volksschauspielerin und Sängerin Trude Herr. Schmidt räumt ein, dass er zunächst gestutzt habe, als man ihm das Titelbild vorgelegt habe. Aber Herr – eben deren Porträt ist auf dem Schutzumschlag zu sehen – sei ein prominentes Beispiel für eine Kölnerin, die aus kleinen Verhältnisse stamme, und trotz ihres Aufstiegs weder ihre Herkunft verleugnet noch Solidarität mit den Leuten unten verloren habe.

Dienstmädchen, Arbeitskämpfer und Bayenamazonen
Der Theologe und Historiker Schmidt, Jahrgang 1935, lässt seine Folge ausgewählter Geschichten und Porträts im Mittelalter beginnen und führt sie bis in die Gegenwart. Dabei geht er etwa ein auf Lebenskünstler wie den „Maler Bock“ oder „Orgels Palm“. Er widmet sich dem politischen Wirken Robert Blums, einem „Mann des Volkes“ – der gebürtige Kölner gehörte nach der Märzrevolution von 1848 zu den Abgeordneten des ersten, demokratisch gewählten gesamtdeutschen Parlaments in Frankfurt. Ebenso behandelt Schmidt die Arbeitskämpfe Ende des 19. Jahrhunderts. Unter den Streikenden befanden sich die so genannten Bayenamazonen. Sie arbeiteten in der nahe dem Bayenturm gelegenen „Kölnischen Bauwollspinnerei und -weberei“, im Volksmund „Bayefabrik“. Ebenso beschreibt Schmidt die Arbeit des 1865 in der Südstadt gegründeten evangelischen Martha-Stifts für Dienstmädchen und erinnert er an das überragende wie breite soziale Engagement der 1929 verstorbenen Protestantin Laura Oelbermann.

Umfassend und doch gut lesbar
Der wissenschaftliche, publizistische Blick aufs „einfache“ Volk ist selbstverständlich nicht neu. In zahlreichen allgemeinen wie spezifischen Abhandlungen, umfangreichen Monographien oder in ppen Aufsätzen haben Historiker, Soziologinnen und andere sich den so genannten kleinen Leuten gewidmet. Auch zur Situation in Köln gibt es etliche Publikationen, in denen Angehörige der so genannten unteren Schicht schwerpunktmäßig oder zumindest partiell gewürdigt werden. Neu an Schmidts Konzept ist die zusammenhängende Darstellung durch verschiedene Jahrhunderte. Gleichwohl kann diese nur exemplarisch ausfallen. Dem Autor gebührt das Verdienst, aus zahlreichen Quellen geschöpft und daraus spannende Milieuschilderungen und Einzelporträts formuliert zu haben. Allein 32 Seiten umfasst das Anmerkungsverzeichnis. Der Lesbarkeit schadet dies indes nicht.

Die „Gerechtigkeitsdebatte“ früher und heute
Gewidmet hat Schmidt das Buch dem katholischen Pfarrer Franz Meurer, seinem „Nachbarn, Freund und kreativen Anwalt der kleinen Leute“ in Köln-Vingst. Meurer merkte bei der Pressevorstellung an, dass wir darin „Situationen beschrieben finden, die wir auch heute antreffen“ – nämlich eine soziale Schieflage, die Kluft zwischen Arm und Reich. „Alles, was es damals gab, gibt es auch heute“, forderte Meurer unverändert eine Gerechtigkeitsdebatte in und für Köln. Er selbst hat gemeinsam mit vielen anderen in den Stadtteilen Höhenberg und Vingst Aktionen zur Teilhabe initiiert. So riefen bereits 1994 die dortigen evangelischen und katholischen Kirchengemeinden das mittlerweile größte Kölner Ferienlager für Kinder ins Leben: „HöVi-Land“. Auch darüber schreibt Schmidt.

Warum gibt es nie ein Happy End?
Vielen wird es bei der Lektüre ähnlich ergehen, wie Martin Stankowski, der „erst mal verwirrt, fast deprimiert“ reagierte. Und sich fragte: „Warum, verdammt noch mal, gibt es nie ein Happy End?“ Der in Köln lebende Journalist, Autor, Stadtführer, Geschichtenerzähler, Moderator und anderes mehr hat seinem Freund Schmidt einen wunderbaren Kommentar gewidmet. Dieser ist geprägt von der Stankowski eigenen Unverblümtheit und rhetorischen Brillanz. Und er schließt mit der treffenden Feststellung, dass in diesem Buch nicht danach gefragt werde, woher der Mensch komme oder wohin er gehe, Schmidt habe vielmehr damit begonnen, auf die Frage: „Was macht er in der Zwischenzeit?“ zu antworten.

Das Buch
Klaus Schmidt: Kölns kleine Leute. Geschichten und Porträts, mit einem Nachwort von Martin Stankowski, 304 Seiten, Köln 2011, Greven Verlag Köln, 19,90 Euro (ISBN 978-3-7743-0469-7).

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Broich