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Kölner Kongress, unter anderem mit der Melanchthon-Akademie: „Erinnern für die Zukunft“. Ziel: Europäische Zukunft gestalten

2001 begann das aktuelle forum nrw e.V., ein Bildungsträger der politischen Erwachsenenbildung mit Sitz in Gelsenkirchen, Seminare und Begegnungen in europäischen, so genannten Massakerorten durchzuführen. Dort haben im Zweiten Weltkrieg Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS schwerste Gräueltaten an der Zivilbevölkerung begangen. Den Auftakt der internationalen Reihe „Europäische Jugend gegen Gewalt und Rassismus“ bildete das vor fünf Jahren vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) initiierte Projekt im tschechischen Lidice, wo erstmals junge Menschen, Zeitzeugen und lokale Politiker zusammen trafen. Dort entstand die Idee, das Generationen verbindende Projekt europaweit zu vernetzen. So wurde die Reihe „Erinnerungskultur“ im griechischen Kalavryta, im französischen Oradour-sur-Glane, im italienischen Monte Sole/Marzabotto und in Warschau – allesamt „Massakerorte“ – fortgesetzt. „Das Ziel heißt: Jung trifft alt“, bringt es Joachim Ziefle, Studienleiter der evangelischen Melanchthon-Akademie, auf den Punkt. Das Bildungswerk des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region hat gemeinsam mit aktuelles forum nrw so gut wie alle Projekte innerhalb der Reihe „Erinnerungskultur“ in Deutschland initiiert und betreut. Dazu zählten beispielsweise Seminare mit Filmen wie „Jud Süß“, die Produktion eigener Kurzfilme und Radiosendungen. Am letzten Wochenende tauschten sich die Teilnehmenden bei einem großen, europäischen Kongress über die „Erinnerung“ und ihre Arbeit an und mit ihr aus und brachten die Öffentlichkeit auf den aktuellen Stand ihrer Arbeit: Bald soll eine DVD erscheinen, die in Schule und Weiterbildung eingesetzt, über das Internet weiterbearbeitet werden kann.

Das Ziel: Europäische Zukunft mitgestalten
„Durch die Projektarbeit vor Ort, die für die Beteiligten nicht einfach und häufig schmerzhaft war, wurde nicht nur auf eine gemeinsame und grausame Vergangenheit zurückgeschaut“, sagt Torsten Haselbauer von aktuelles forum nrw. Die zahlreichen Kontaktmöglichkeiten hätten den jungen Menschen die Chance geboten, miteinander ihren Blick in die Zukunft zu richten – auf ein vereinigtes Europa. „Sie entwickelten Ideen, wie sie andere Menschen dazu ermutigen können diese Zukunft mitzugestalten.“

Die Frage: Wie wollen wir leben in Europa?
In der Melanchthon-Akademie tagte in Kooperation mit dem aktuellen form nrw auch immer wieder eine „Steuerungsgruppe“ von Journalisten, Historikern, Pädagogen und Technikern. Sie hat das innerhalb der vergangenen fünf Jahre in den „Massakerorten“ von Jugendlichen erstellte Material konzipiert und aufgearbeitet. Ziel war von Anfang an die Erstellung einer DVD, die Texte, Fotografien, Filme und Radioproduktionen zusammenführt . Diese beruhen insbesondere auf Zeitzeugenberichten, erinnern an die „deutsche Vergangenheit“ der einzelnen Orte und enthalten Anregungen für ein gemeinsames Europa.

Die DVD: Unterstützung für Ideen
Das Material der DVD liegt jetzt vor. Allein: Die technische Umsetzung ist noch nicht abgeschlossen. „Ende des Jahres soll sie erscheinen“, kündigen Haselbauer und Ziefle an, zunächst in deutscher und englischer Sprache, später in allen europäischen Sprachen. „Die DVD ist kein klassisches Unterrichtsmaterial, sondern soll als Unterstützung dienen, um Ideen zu bekommen“, erläutert Haselbauer. „Sie soll informieren, aktivieren, motivieren, auch außerschulisch. Sie stellt eine Art Basis dar, wird immer weiter entwickelt. Sie ist so aufgebaut, dass im Internet weiter gearbeitet und Informationen dort kontrolliert ausgeweitet werden können.“ Hauptfrage soll debei immer sein: „Wie wollen wir leben in Europa?“ Eingesetzt werden soll die DVD überall dort in Europa, wo es um „Erinnerung“ gehe, so Ziefle.

Der Kongress: Höhepunkt und vorläufiger Abschluss
Die noch „fragmentarische“ DVD wurden nun auf dem zweitägigen Kongress „Erinnern für die Zukunft“ vorgestellt. Veranstaltet in Zusammenarbeit von aktuelles forum nrw und Melanchthon-Akademie, fand er statt im Horion-Haus des LVR in Köln-Deutz. Rund 140 Teilnehmende aus sechs verschiedenen Ländern, darunter Zeitzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg, Mitarbeitende von Gedenkstätten, Jugend- und Erwachsenenbildungseinrichtungen, Wissenschaftler, Vorsitzende von Opferverbänden sowie Jugendliche, Politiker und Repräsentanten aus den genannten und anderen „Massakerorten“, diskutierten über ihre gemeinsame „deutsche Geschichte“ und ihre Begegnungen mit Bewohnern aus den „Massakerorten“. Sie tauschten sich über Generationen und Grenzen hinweg aus mit der Absicht, „ihre Arbeit weiter zu intensivieren und zu vernetzen“ und Visionen für ein gemeinsames Europa zu entwickeln. Mit dem internationalen Kongress in Köln, dem ein Jugend-Projekt in Berlin mit dem Titel „Was sind heute für uns Helden?“ vorausgegangen war, habe das „Erinnerungs“-Projekt seinen Höhepunkt und vorläufigen Abschluss erreicht, erklärte Haselbauer.

Die Zukunft des Gedenkens: Besser ohne „Schlussstrichmentalität“
Der Kongress wurde mit dem Vortrag „Die Erinnerungen der Nationen und die Zukunft Europas“ von Prof. Dr. Bernd Faulenbach, Universität Bochum, eröffnet. Professor Dr. Klaus Ahlheim von der Universität Essen-Duisburg sprach über „Zukunft ohne Vergangenheit?“ und warnte vor einer „Schlussstrichmentalität“ und deren Auswirkungen. Dr. Albert Spiegel, ehemals Botschafter in Paris und Athen, zeigte Erfahrungen, Wege und Notwendigkeiten zur „Erinnerung und Zukunftsgestaltung im politischen Prozess“ auf. Zu Wort kamen ebenso Vertreter aus beteiligten Orten, Jugendliche berichteten über ihre Erfahrungen und Beiträge.

Die Realität in Deutschland: „Wir brauchen eine andere Flüchtlingspolitik“
In der abschließenden Gesprächsrunde unter dem Titel „Die Zukunft des Gedenkens im zusammenwachsenden Europa“ nahmen Albert Spiegel, Dr. Rolf Mützenich, MdB und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses sowie je ein(e) Vertreter(in) der Jugendlichen und der internationalen Delegationen Stellung zu Fragen der Kongress-Moderatorin der Journalistin Beate Hinrichs. Eine Frage lautete, ob wir in Europa und gerade als Deutsche eine andere Migrationspolitik betreiben müssten. „Wir brauchen eine andere Flüchtlingspolitik“, antwortete Mützenich, „auch in Deutschland.“ Gerade, was die Aufnahme von Verfolgten betreffe. Natürlich hätten die Menschen Angst vor Fremden. Dies spüre er auch in seinem städtischen Wahlkreis in Köln, wo in dieser Hinsicht Kommunalpolitik Fehler mache. Er forderte zu eine anderen lokalen Politik im Umgang mit Fremden und Ausländern auf.

Jetzt und in Zukunft: Tägliche Auseinandersetzung, gemeinschaftliches Engagement
Auf die Frage nach der Einschätzung des Rechtsradikalismus als schleichende Gefahr für die Demokratie, antwortete ein Mitglied der italienischen Delegation, dass man es nicht nur mit einem Phänomen in Italien oder Deutschland zu tun habe, sondern in ganz Europa. Mützenich sagte mit Hinweis auf den Einzug von rechten Parteien in Parlamente, „die Demokratie, die sich jeden Tag erneuern muss“, müsse es aushalten, dass man sich mit diesem Thema auseinandersetze. Tagtäglich, überall, auch an der Theke. Der Bundespolitiker zeigte sich beeindruckt von den Ergebnissen des langjährigen, internationalen „Erinnerungs“-Projekts, vom Engagement der Beteiligten und schließlich vom Verlauf des gemeinschaftlichen Kongresses. Er stellt fest, dass es ein ganz wichtiges Prinzip auch der internationalen Politik sein und bleiben müsse, Erinnerung zu betreiben.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich