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Samuel Dobernecker und Joel Jaffe (hinten) verdichteten mit ihren Sounds die Aura des Stummfilmklassikers „Der Golem – Wie er in die Welt kam“.

Klangfarben voller Angst und Hoffnung – Stummfilmkonzert in der Reformationskirche Goethestraße untermalte Paul Wegeners Jahrhundert-Epos „Der Golem – Wie er in die Welt kam“

Ein milder Abend umarmt die Stadt lächelnd wie einen guten Freund und lädt nach den Lockerungen der Corona-Sicherheitsauflagen zum gemeinsamen Verweilen in den lang vermissten Restaurants, Biergärten oder schlicht zum Flanieren entlang den Ufern des Rheins ein, doch die Dom-Metropole lockt am Vortag des kalendarischen Sommerbeginns auch mit gänzlich anderen Arten des Rendezvous – etwa der Kunst.

Unweit des Stromes zog es rund 50 Besucherinnen und Besucher in die Reformationskirche Goethestraße/Mehlemer Straße zur Aufführung des Stummfilm-Klassikers „Der Golem – Wie er in die Welt kam“ von Paul Wegener. Musikalisch begleitet wurde der Streifen aus dem Jahr 1920 von Samuel Dobernecker an der Orgel und Joel Jaffe am modularen Synthesizer. In Kontrast zur heiteren und gelösten Stimmung auf den Straßen und Plätzen begaben sich die Filmkonzertgängerinnen und -gänger mit dem Auftakt zum visuell-akustischen Event auf eine dunkle Reise in die Abgründe der Menschheit.

Mensch spielt Gott

In seiner Einführung hob Pfarrer André Kielbik die Bedeutung der aufwändig restaurierten Filmfassung vor und vermittelte wesentliche Inhalte der Produktion: „Das Wort Golem bedeutet ‚formlose Masse‘, ‚Keim‘ oder ‚etwas Ungestaltetes‘. In der Sefer Jezira, einer kosmologischen Abhandlung aus dem 10. Jahrhundert, die die wesentlichen Elemente der Schöpfung in ihrer Entstehung und Struktur erhält, wird zum ersten Mal die Figur des Golems erwähnt: Eine aus Lehm erschaffene Gestalt, die zum Leben erweckt wird.

Der Ursprungsort dieser Schrift ist Worms, die Geburtsstadt der historischen Figur Rabbi Löw, der der Legende nach als erster den Golem erschuf“, so Kielbik. Ursprünglich als Retter gedacht, der im jüdischen Ghetto von Prag die Ritualmorde an kleinen Kindern aufdecken und die verdächtigen Bewohnerinnen und Bewohner entlasten soll, entwickelt der Angst einflößende Charakter ein Eigenleben und entwächst seinem Schöpfer. Dem Giganten sind zwar enorme Kräfte zu eigen, doch fehlen ihm Sprache als Ausdrucksmöglichkeit und Vernunft, die für eine Reflektion der Taten sowie ein soziales Verhalten maßgeblich sind.

Verweise auf den biblischen Adam, der wie Gott sein wollte, Mary Shelleys Frankenstein, der Computer „HAL“ aus Stanley Kubricks Sience-Fiction-Drama „2001 – A Space Odyssey“ oder gar Online-Spiele wie „League of Legends“ und „Clash of Clans“ bezeugen die Zeitlosigkeit der Thematik. Die Instrumentalisierung des Filmes durch die Nazis für ihre menschenverachtende Rassenideologie offenbaren dabei die eigentliche Tragödie der tiefgründigen Story, in der Regisseur Paul Wegener die Hauptrolle bekleidete.

In der musikalischen Adaption des Stoffes kreierten Samuel Dobernecker und Joel Jaffe an ihren Instrumenten einen Soundtrack, der Angst und Hoffnung miteinander vermählte.

„Dieses Musikgenre ist in der Kirchenmusik noch relativ unverbreitet, trägt aber durch das Hineinhören in den Augenblick, das Verschmelzen mit einem Spielpartner und die Offenheit des gerade Entstehenden eine große, auch spirituelle, Kraft in sich.“ Samuel Dobernecker über die Herausforderung der Stummfilm-Konzerte.

Über die Hintergründe zum bereits dritten Konzert des Formats nach „Menschen am Sonntag“ (2019) und „Panzerkreuzer Potemkin“ (2018) berichtete Dobernecker, der als Kirchenmusiker an der Evangelischen Kirchengemeinde Köln-Bayenthal wirkt, im Vorfeld der Aufführung: „Die Stummfilmkonzerte bieten eine Möglichkeit, den Raum über das allgemeine Erwartungsbild hinaus zu öffnen, Menschen außerhalb des klassischen Kirchenkonzert-Publikums anzusprechen und sie mit dem Raum in Verbindung zu bringen beziehungsweise Vertrautheit zu schaffen, ohne missionarische Hintergedanken. Dabei geht es immer um ‚vorbereitet-freie‘ Improvisationen am Film entlang.

Dieses Musikgenre ist in der Kirchenmusik noch relativ unverbreitet, trägt aber durch das Hineinhören in den Augenblick, das Verschmelzen mit einem Spielpartner und die Offenheit des gerade Entstehenden eine große, auch spirituelle, Kraft in sich“, zeigt sich der Mitinitiator über das Unterfangen begeistert. Über die Entscheidung, den „Golem“ zu interpretieren, sagt Dobernecker, „Die Alternative war ‚Der letzte Mann‘ von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1924, ein Sozialdrama mit viel Humor und Ansichten aus dem alten Berlin.

Der ‚Golem‘ ist nicht nur allgemein bekannter, sondern darüber hinaus ‚problematischer‘ und verlangt ein geschultes Sehen.“ Mit der Wahl wollten die Künstler zudem ein Zeichen gegen den wieder aufkommenden Rechtsextremismus setzen. „Natürlich, das ist eines der wichtigen Anliegen des Konzertes: Das Erstarken des Antisemitismus in Deutschland, das Erstarken des Populismus in der ganzen Welt und der wachsende Trend zur Ausgrenzung jeweils anderer. Das Konzert im hundersten Jahr nach der Entstehung des Films weist zugleich auf das Festjahr 2021 – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland hin.

Text: Thomas Dahl
Foto(s): Thomas Dahl