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Kirche als „Schutzraum“, wenn Menschen kontrovers diskutieren: Gerade fand das 100. Dellbrücker Forum in der Christuskirche statt. Thema: Unsere Demokratie

Die „große Politik“ stand wie gewohnt im Mittelpunkt des Dellbrücker Forums. Das war schon 99 Mal so – und beim 100. Mal nicht anders. „Wie belastbar ist die Demokratie?“ lautete diesmal die Frage in der Christuskirche im rechtsrheinischen Köln-Dellbrück. Antworten gaben der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum, der derzeit als Bürgerrechts-Anwalt und UN-Beauftragter für den Sudan arbeitet, Sonia Mikich, Leiterin und Moderatorin des ARD-Magazins „Monitor“ und Norbert Röttgen, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Moderiert wurde der „Jubiläums-Abend“ wie gewohnt Arnd Henze, Gründer des Forums und stellvertretender Leiter der Programmgruppe Ausland beim Westdeutschen Rundfunk.



Der „unersättliche Datenhunger“ des Staates
Baum nannte die Bundesrepublik Deutschland eine „geglückte Demokratie“, mahnte jedoch zur Wachsamkeit. Er kritisierte vor allem die zahlreichen neuen Gesetze nach den Terroranschlägen der vergangenen Jahre. „Es ist schlimmer gekommen, als ich nach dem 11. September gedacht habe“, lautete sein Fazit. Er hat vor dem Bundesverfassungsgericht mit Erfolg gegen zwei Gesetze geklagt. „Karlsruhe hat den ,Großen Lauschangriff‘ kassiert, und die Bundeswehr darf Passagierjets nicht einfach abschießen, wenn sie von Terroristen gekapert wurden. Auch das möglicherweise todgeweihte Leben ist geschützt.“ Baum forderte, die Privatsphäre des Bürgers unbedingt zu achten. Der Staat sei „unersättlich in seinem Datenhunger“. Auch Sonia Mikich kritisierte, dass beispielsweise Telefongespräche der Tagesschau-Online-Redaktion mit G-8-Gegnern abgehört worden seien. Röttgen verwies auf die zentrale Rolle des Bundesverfassungsgerichts: „Die Richter haben eben nicht erlaubt, in die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen einzugreifen.“ Im Übrigen bestehe in Deutschland eine „rechtstaatlich sehr hohe Anforderungspraxis an die Gesetzgebung“. Baum erklärte, dass man abzuwägen habe zwischen der Einschränkung der Grundrechte und dem damit verbundenen möglichen Sicherheitsgewinn. „Es ist nicht auszuschließen, dass sich der Staat rechtswidrig verhält. Um das zu sanktionieren, haben wir die Gewaltenteilung“, entgegnete Röttgen.

„Rückkehr der Politik“ gefordert
Sonia Mikich hatte einen „Verlust des Privaten“ ausgemacht: „In TV-Shows oder Chat-Rooms im Internet entblößen sich die Leute selbst.“ Das gehe dann weiter mit den so genannten Pay-Back-Karten: „Ich habe meine Karte sofort abgeschafft, als ich plötzlich Briefe von Firmen bekam, die wussten, was ich gern lese oder wohin ich gern reise.“
Wie belastbar die Demokratie ist, werde sich erweisen im Umgang mit der zunehmenden Ungerechtigkeit bei der Einkommensverteilung in Deutschland, erklärte Henze. „Die Globalisierung ist ein komplexer Prozess. Und ich habe das Gefühl, wir haben noch keine gestaltende Antwort auf diesen Epochenwandel“, gestand Röttgen. Mikich kritisierte, dass der Einfluss der Wirtschaftsunternehmen auf das Leben der Bürger immer größer werde: „Ich fordere eine Rückkehr der Politik. Es gab noch nie so viele Lobbyisten, die Einfluss auf die Gesetze nehmen. Und die Politiker weichen zurück.“ Dagegen verwahrte sich Röttgen entschieden: „Diese Lust an der Diskreditierung der Institutionen teile ich nicht.“

Mit der „Rolle der Bundeswehr“ hat es begonnen
Seit 15 Jahren versammelt das Dellbrücker Forum immer wieder hochkarätige Gäste, die über aktuelle politische Themen streiten. „Angefangen haben wir damals in einem kleinen Raum mit 15 bis 20 Leuten“, erinnert sich Arnd Henze. Jetzt ist die Christuskirche mit weit über 200 Leuten immer gut gefüllt, wenn diskutiert wird. Angefangen hat alles mit dem Thema „Den Krieg wieder lernen – Die neue Rolle der Bundeswehr“.

100 Mal „nicht einen Cent Honorar gezahlt“
„Wir bieten mit der Kirche einen Schutzraum, in dem Menschen sachlich miteinander diskutieren können, die draußen nur stereotyp auf ihren Positionen beharren“, erklärt Henze. Ihm ist wichtig, dass das Forum den Menschen die Gewissheit gibt, dass es sich lohnt, sich einzumischen: „Wir wollen widerlegen, dass man nichts machen kann.“ In den vergangenen Jahren hat er trotz kontroverser Themen und Diskussionen nie Widerstände in der Gemeinde gespürt. Die Kirche müsse sich natürlich zu gesellschaftlichen Fragen äußern. Das könne sie glaubhaft nur, wenn sie über entsprechende Informationen verfüge. Henze ist stolz darauf, in 15 Jahren „nicht einen Cent Honorar“ gezahlt zu haben. Nur die Anreise und die Unterbringung der Gäste würden bezahlt. Spenden seien angesichts der Krise der kirchlichen Finanzen dringender denn je.

Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Rahmann