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Karfreitagspredigt 2014 des Stadtsuperintendenten

Predigt an Karfreitag, 18. April 2014, 9.45 Uhr, in der Kölner Kartäuserkirche, Kartäusergasse 7:

Liebe Gemeinde!

Letztes Jahr hat die internationale Kunstwelt eine Sensation erlebt, die eigentlich aus nichts weiter als einem leeren Raum bestand. Der „Verpackungskünstler“ Christo hatte im Gasometer Oberhausen eine riesige Stoffhülle installiert, eine Skulptur aus luftigem weißem Stoff, die von Innen begehbar war. Sicher haben Sie davon gehört, vielleicht waren Sie ja sogar selbst vor Ort, um sich ein Bild zu machen. Allein die Maße sind beeindruckend: Die Höhe betrug 90 Meter, so hoch wie das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, die Grundfläche war so groß, dass zwei Tennisfelder darin Platz gehabt hätten. Aber das Einzigartige an diesem Raum war, dass er völlig leer war. Und wer ihn betrat, konnte etwas höchst Erstaunliches erleben: Da lagen Menschen jeden Alters auf dem Rücken und blickten ehrfürchtig auf diesen weißen Himmel, durch den sanft das Tageslicht schien. Sie genossen die Leere sichtlich, nahmen sie in sich auf und wurden dabei ganz ruhig.

Es ist schon bemerkenswert, dass ein leerer Raum auf uns eine solche Faszination ausübt. Denn wenn man sich in unserer Gesellschaft umschaut hat man den Eindruck, dass wir die Leere aus unserem Leben fast vollständig wegrationalisiert haben. Wir leben in einer Arbeitswelt, die sich zunehmend verdichtet – durchschnittlich vier Stunden Freizeit haben wir Deutschen laut einer aktuellen Studie pro Woche, meist verbringen wir diese Zeit vor dem Fernseher, so die statistischen Erkenntnisse. Mit unseren Freunden stehen wir über das Internet in Verbindung. Auch dort gibt es keine Leere sondern ständige Erreichbarkeit. Die Fähigkeit zum Alleinsein haben wir Menschen des 21. Jahrhunderts fast schon verloren. Und auch sonst wirkt die Leere auf uns eher bedrohlich: Wir begegnen ihr in Form des Burnouts oder der Depression, Krankheiten, von denen so viele Berufsgruppen bedroht sind. Leer zu sein ist ein Defizit, das man beheben muss, wenn man nicht seinen Job verlieren will. Leer sein und ausgebrannt, das schlägt auf Dauer ökonomisch karriereschädlich zu Buche. Jeder weiß das: „Leer-Sein“ lässt sich nicht positiv bilanzieren!

Ist sie deshalb unnütz und schädlich, die Leere?

Wir haben heute, am Karfreitag, einige Dinge aus dem Kirchraum entfernt, um einen möglichst leeren Raum zu schaffen. Sicher haben Sie bemerkt, dass auf dem Altar heute eine leerere Fläche ist – keine Altarbibel und keine Kerzen stehen darauf. Am liebsten hätten wir noch mehr Leere geschaffen: Einen leeren Sakralraum, in dem unsere Gedanken durchatmen können. Der katholische Theologe Friedhelm Mennekes, Initiator der Kunststation St. Peter in der Innenstadt, hat diese Idee mal sehr treffend formuliert: "Der Mensch, der eine Kirche betritt, will zur Ruhe kommen können. (…) Das Schweigen ist der Anfang allen Fragens. Die Leere sein Grund. In sie hinein schwingt alles Bewegte aus."

Der heutige Feiertag ist ein schöner Anlass, sich dieser Leere zumindest anzunähern.

Karfreitag ist theologisch eingebettet in die Osterfeiertage und eng verbunden mit der Heilsbotschaft der Auferstehung. Wenn wir im Kirchenjahr Jesu Kreuzigung gedenken, dann geschieht das im Kontext von Ostersonntag – wir kennen das Ende der Geschichte, es gibt uns Trost und hilft uns, die Ereignisse am Karfreitag auszuhalten. Auch der heutige Predigttext – eine Vision des alttestamentarischen Propheten Deuterojesaja – stellt das Leiden des Gottesknechtes in einen Rahmen der Heilsgeschichte: „Siehe, meinem Knecht wird's gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein“, heißt es da im Eingangsvers, und am Ende: „Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben.“ Diese Hoffnung ist auch uns sehr nah, sie bestimmt im Kern auch unser Leben als Christen. Doch zwischen diesen beiden visionären Hoffnungszenarien beschreibt der Prophet die totale Verlassenheit des Gottesknechtes, eine Leere, ein Nichts, das getragen ist von der Erfahrung des Volkes Gottes im Exil: Abgeschnitten vom Kultus im Tempel, ohne die vertraute und unmittelbare Gottesbegegnung im Hause des Herrn. Darin, in dieser Erfahrung begegnen sich die Situation der Juden im Exil, die Situation der Jünger unter dem Kreuz und die symbolhafte Leere in unserer Kirche heute.

Deshalb möchte ich mit Ihnen einen Moment innehalten.

Lassen Sie uns doch versuchen, der Leere des Karfreitags Raum zu geben. Wie mag sich dieser Tag für die noch junge Bewegung des Christentums angefühlt haben? Für die Jüngerinnen und Jünger, die sich in Jerusalem versteckt hatten, die Angst haben mussten, dass der hohe Rat mit den Anhängern nun ebenso verfahren würde, wie mit dem Kopf der Bewegung. Sie waren Menschen, die für ein höheres Ziel ihre Familien verlassen haben, die ihre Berufe niedergelegt und alle Sicherheiten aufgegeben haben. Zwei bis drei Jahre sind sie Jesus gefolgt, haben Wunder und Heilungen gesehen; das Reich Gottes, das Reich der Gerechtigkeit war für sie manchmal wie zum Greifen nah. Der Höhepunkt dieser Reise mag dieses letzte Passahfest in Jerusalem gewesen sein: Dort versammelte sich die Juden aus Nah und Fern, dort – davon dürften die Hoffnungen der Jünger getragen gewesen sein – dort würde die Bewegung erst richtig beginnen, die finale Wende zum Besseren.

Eine neue Zeit sollte beginnen, eine große Hoffnung Gestalt gewinnen, all das, wofür sich die persönlichen Opfer der letzten Jahre gelohnt haben. An Karfreitag verlieren diese Hoffnungen ihre Berechtigung. Das Ziel, nach dem die Jüngerinnen und Jünger ihr Leben ausgerichtet haben, fällt in sich zusammen. In diese Perspektivlosigkeit mischt sich die tiefe Trauer, einen engen Freund und väterlichen Lehrer verloren zu haben. Der Schock, die innere Erstarrung, das Gefühl einer inneren Entfremdung – diese Erfahrungen machen wohl alle Trauernden. Darin rücken die Jüngerinnen und Jünger ganz nah auch an uns Menschen des 21. Jahrhunderts heran.

Auch Jesaja – wir kommen jetzt zum Predigttext – genaugenommen Deuterojesaja, spricht in einer Situation des Traumas. Seine Wirkungszeit fällt in das 6. Jahrhundert vor Christus und damit in eine schwere Krisenzeit des jüdischen Volkes. Die Babylonier hatten Jerusalem erobert und große Teile der jüdischen Oberschicht verschleppt. Für die gläubigen Juden muss diese Verschleppung einem Schock gleichgekommen sein – man lebte in einer fremden Kultur, die von einem polytheistischen Weltbild geprägt war und hatte mit dem Jerusalemer Tempel das Herzstück des eigenen Glaubenslebens und damit die eigene kulturelle Identität verloren. Wenn man vor diesem Hintergrund das Lied vom Gottesknecht liest, kann man die Frage, mit der dieser Text ringt, förmlich heraushören: Warum lässt Gott diese Leere zu?

Auch wenn beide Geschichten ein ganzes Zeitalter trennt, spinnt die Vision des Gottesknechtes ein feines Band zwischen den trauernden Jüngerinnen und Jünger in Jerusalem und der Orientierungslosigkeit des Gottesvolkes im Exil. Zwischen der persönlichen Betroffenheit einer kleinen Gruppe von Gläubigen und der erlebten Bedeutungslosigkeit eines ganzen Volkes. Und noch etwas ist auffällig: Wenn wir beide Geschichten ein Stück weiterverfolgen, lässt sich beobachten, dass sich an die Zeit der Leere eine Zeit der kreativen Neufindung anschließt. In Babylonien wird sie durch die Eroberung des Perserkönigs Kyros II eingeläutet, der den Juden im Folgenden erlaubt, in ihre alte Heimat zurückzukehren und den Tempel wieder zu errichten. Und in der jungen Bewegung des Christentums ereignet sie sich in der Auferstehung die Hoffnung auf einen Neubeginn und mit dem Pfingstwunder die Manifestation dieser Hoffnung, aus welcher die Jerusalemer Urgemeinde hervorgeht.

Warum ist Karfreitag eigentlich ein Feiertag? Diese Frage wird alljährlich gestellt und vor allem auch mit der Zuspitzung: Warum ist Karfreitag ein sogenannter „stiller Feiertag“? Ganz einfach gesagt, wir feiern an Karfreitag, dass Gott in der Leere einen Neuanfang schafft. Damit das auch heute noch nachwirken kann, müssen wir uns auf diese Leere und die damit verbundene Stille wirklich einlassen.

Die Passion Jesu ist damit ein Schlüssel für das Verständnis unseres Glaubens. Wir erleben hier exemplarisch, wie aus der Trauer neues Leben entsteht. Der Theologe und Pastoralpsychologe Werner Kühnholz hat es sogar noch drastischer formuliert: Die urchristliche Theologie, und damit auch das Neue Testament, kann man nur vor dem Hintergrund dieser österlichen Trauerarbeit verstehen. In der Leerstelle, die Karfreitag in das Leben der Jüngerinnen und Jünger reißt, entsteht eine neue Hoffnung, die bis heute nachhallt.

Es gibt aber noch einen zweiten, viel alltäglicheren Grund, warum wir Karfreitag feiern. Denn Feiertage sind Unterbrechungen des Alltags, kleine Stolpersteine, die unseren gewohnten Ablauf irritieren. Im Rhythmus des Kirchenjahres erinnert uns Karfreitag daran, dass die Leere keine unangenehme Begleiterscheinung des Lebens ist, sondern sein existenzieller Bestandteil. Machen Sie mal einen kleinen Alltagstest und beobachten Sie sich in einer Diskussion mit Anderen. Ich vermute, es geht Ihnen wie mir: Noch während der oder die andere spricht, sind Sie bereits dabei, eine Antwort zu formulieren, Pro und Kontra abzuwägen und eine möglichst günstige Position zu finden. Oder nehmen Sie sich fünf Minuten Zeit und versuchen Sie einen Moment der inneren Leere zu erreichen. Ich vermute, Sie werden sich nach einer Minute dabei ertappen, dass Sie Ihre To-do-Liste durchgehen. Die Leere fällt uns schwer, sie mag in unserem hektischen Alltag ein Desiderat sein. Umso schöner ist es, dass wir ihr mit Karfreitag einen Feiertag widmen: in aller Stille! Und ich darf Ihnen versichern:

Das Wunder des Neuanfangs ereignet sich auch im Kleinen, wo immer Sie Gott einen Raum geben, der noch nicht bis zur Decke angefüllt ist.

Christos leerer Raum ist inzwischen wieder aus dem Gasometer verschwunden und wird auch nie wieder irgendwo zu sehen sein. Es gibt aber dennoch einen schönen Epilog: Denn die 20.000 Quadratmeter des äußerst widerstandsfähigen und wasserdichten Stoffes wurden auf die Philippinen verschifft, wo sie unter den Opfern des Hurrikans Haiyan vom November letzten Jahres verteilt werden. Aus dem leeren Raum ist nun eine Hülle geworden unter der das Leben Schutz findet.

Auch wir möchten Ihnen heute etwas mitgeben. Diese Luftkissen, von denen Sie sich gerne eines nehmen können, enthalten hoch dosierte Leere. Die enthaltene Menge deckt in etwa den Tagesbedarf eines Erwachsenen. Und vielleicht gibt es ja in der nächsten Woche einen Moment, in dem Ihnen der Alltag über den Kopf wächst. Dann können Sie das Plastik durchstechen und sich eine Dosis Leere gönnen.

Amen.

Text: Rolf Domning
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