You are currently viewing Kann man den Tod „zähmen“?

Kann man den Tod „zähmen“?

Selten hat eine Veranstaltung, die monatelang im Voraus geplant wurde, einen solch unmittelbaren Aktualitätsbezug. Am 5. und 6. November 2015 hat sich der Bundestag mit zwei Gesetzesinitiativen beschäftigt, die das Sterben in Würde und seine notwendige medizinische Versorgung sowie den assistierten Suizid behandeln. Die tagespolitischen Nachrichten flossen mit ein, als am vergangenen Freitagabend im Großen Saal der evangelischen AntoniterCityKirche zur Veranstaltung „Gott im Café“ geladen wurde.

Darf man solche ernsten Inhalte in lockerer Kaffeehaus-Atmosphäre besprechen? Man sollte sogar, findet die Bonner Professorin für Systematische Theologie, Cornelia Richter: „Ich komme aus Wien. Im dortigen Kaffeehaus wird immer in Ruhe gedacht und gegessen.“ Sie fordert denn auch die Teilnehmenden zum Essen auf, aber: „Bitte werfen Sie die Gläser nicht an die Wand, weil das scheppert.“

Von Mensch zu Mensch
Nein, es knallte nicht an diesem Tag der kontroversen Diskussionen im Parlament, auch nicht in der AntoniterCityKirche. Allerdings kommt zur Sprache, dass es bisweilen gewaltig knirscht, wenn Palliativmediziner, Pflegekräfte oder Pädagogen von den Betroffenen aufgefordert werden, aus ihrer professionellen Funktion herauszutreten und ihnen von Mensch zu Mensch zu begegnen. Dazu braucht es auf beiden Seiten Widerstandskraft. Oder Resilienz.

Auftakt zu mehrjähriger Foschung
Der Abend ist eingebettet in eine wissenschaftliche Konferenz in der Kölner Melanchthon-Akademie zum Thema „Resilienz“. Sie brachte Forscherinnen und Forscher aus Theologie und Philosophie, Psychologie und Medizin zusammen. Weil sich bislang um Schwerstkranke und Sterbende vor allem die Palliativmedizin kümmert, sollte die interdisziplinäre Tagung herausfinden, ob sich mit Hilfe von Erkenntnissen aus Religionsphilosophie, Anthropologie und Theologie die Situation für alle Betroffenen besser gestalten lässt. Die Tagung bildete gleichzeitig den Auftakt zu einer mehrjährigen Forschungskooperation an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zum Thema „Resilienz und Spiritualität“.

Stand der Forschung
Da ist es sinnvoll, sich zunächst im lockeren Zwiegespräch über den Stand der Forschung auszutauschen. Deshalb führt Professorin Cornelia Richter an diesem Abend ein „Inter-View“ mit Professor Dr. Lukas Radbruch, Direktor der Klinik für Palliativmedizin des Universitätsklinikums Bonn und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Sie wollen einander in die Karten schauen, um auszuleuchten, wo sich ihre Arbeit gegenseitig weiterbringen kann. „Mit Menschen über ihre Ängste, Sorgen und Nöte sprechen, ist Aufgabe der Theologie“, so Richter.

Radbruch verweist darauf, dass die spirituelle und psychosoziale Begleitung von Patientinnen, Patienten und Angehörigen heutzutage ein essentieller Bestandteil palliativmedizinischer Versorgung ist und fragt: „Wie kann man sowas aushalten?“ Der Schlüssel liege in der Resilienz der Betroffenen, also der Fähigkeit, sich an Krisen anzupassen und daran körperlich und seelisch nicht zu zerbrechen. Diese Haltung betrifft nicht nur die Patientinnen und Patienten. „Mein Anspruch an meine Mitarbeiter ist, dass sie lernen, das auszuhalten“, sagt der Klinikdirektor.

Tod im Mittelalter allgegenwärtig
Dabei galten Krankheit und Sterben nicht immer als Krise. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit sei der Tod noch in der Öffentlichkeit allgegenwärtig und dadurch „gezähmt“ gewesen, zitiert Radbruch aus einem Buch des Historikers Philippe Ariès. Bei seinen Patienten sieht der Palliativmediziner oft Bilder aus dieser Epoche auf dem Nachttisch, zum Beispiel den „Aufstieg in das himmlische Paradies“, wie ihn sich der Renaissance-Maler Hieronymus Bosch vorstellte. Darauf bieten Engel den Sterbenden himmlischen Beistand und geleiten sie aus dem Dunkel ins Licht.

Erleben der letzten Lebensphase
Ob Religion und Spiritualität für mehr Normalität im Umgang mit dem Tod sorgen können, hängt stark vom individuellen Gesprächsbedarf der Betroffenen ab. Der Palliativmediziner erzählt von einer Patientin, die als einzige im Freundeskreis Kirchgängerin sei und regelmäßig bete. Und nun habe ausgerechnet sie den Krebs. „Die Theodizee-Frage“, hakt Richter ein und zeigt damit einen konkreten Anknüpfungspunkt von Theologie und Palliativmedizin auf. Auch das Erleben der letzten Lebensphase lässt sich gut mit theologischem Vokabular beschreiben. Die Professorin erwähnt das Phänomen der präsentischen Verdichtung: „Die Sonne scheint nur für einen selbst, das hat Ewigkeitscharakter.“

Reagieren kann darauf nicht jeder in der Ärzteschaft, weiß Radbruch. Es gebe den alten Reflex: „Spiritualität? Da hol ich den Pfarrer.“ Sie gehe anders damit um, meldet sich aus dem Plenum die Ärztin Dr. Elisabeth Lohmann zu Wort: „Ich bete mit und singe für Patienten, ich segne auch Patienten, die sterben.“ Als evangelische Christin sei sie dazu ja auch befugt, anders als Katholiken, die der Vermittlung eines Priesters bedürften. Lukas Radbruch ist seinerseits froh, dass in seinem Team theologisch geschulte und kultursensible Fachkräfte arbeiten, darunter Christen und Muslime.

Resilienz für Profis
Viele Patientinnen und Patienten reagierten zweischneidig auf ihre Situation. Allein gelassen mit ihren Gedanken, wichen sie dem Thema „nahender Tod“ aus. Im Gespräch konfrontierten sie jedoch sich selbst und ihre Angehörigen oder Betreuer damit. Nicht selten werde sogar provoziert. „Jetzt mal Butter bei die Fische, wie lange geht der Scheiß noch?“, habe zum Beispiel ein schwerkranker Jugendlicher einmal seine Lehrerin gefragt.

Eine Herausforderung für diejenigen, die Kranke oder Sterbende begleiten. Auch sie könnten bei der Arbeit in krisenhafte Situationen geraten. Radbruch zitiert Studienergebnisse, wonach in kurzem Zeitraum gehäuft auftretende Todesfälle auf einer Station das pflegerische und ärztliche Team besonders forderten.

Drei Lösungsansätze
Er schlägt drei Lösungsansätze vor. Das Team soll gemeinsam darüber sprechen. Dabei sieht er den Vorteil, dass in seinem Fachgebiet der Palliativmedizin ohnehin eine sehr gute Gesprächskultur etabliert sei. Zum Zweiten empfiehlt Radbruch, sich zum Ausgleich eigene Freiräume zu schaffen, wo man Tod und Sterben nicht hineinlasse. Und Humor ist unverzichtbar. Lukas Radbruch zitiert eine Patientin: „Tumor ist, wenn man trotzdem lacht.“

Bei dem genannten Buch von Philippe Ariès handelt es sich um seine „Geschichte des Todes“, 2015 erschienen in 13. Auflage im Verlag dtv.

Links:

Forschungsprojekt: „Resilienz“ in Theologie, Kultur- und Lebenswissenschaften. Modi des Aushaltens und Gestaltens von Ohnmacht-, Angst- und Sorgephänomenen.

Text: Kathrin Reinert
Foto(s): Kathrin Reinert