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Judenfeindliche Töne in der Johannespassion von Johann Sebastian Bach!?

Darf man die Bach'schen Passionen überhaupt kritisieren, die doch vielen als musikalische Heiligtümer gelten? Oder kann man sie andererseits überhaupt noch aufführen, ja, darf man sie noch mögen angesichts ihrer offen judenfeindlichen Textpassagen, zumal in Zeiten neu aufflammenden Fremdenhasses?

Mit diesen Fragen beschäftigten sich die 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines abendlichen Workshops in der Trinitatiskirche, der im Umfeld der szenischen Passionsaufführungen Anfang März von der Melanchthon-Akademie angeboten wurde.

Verhältnis von Theologie und Musik
Moderiert von Akademieleiter Dr. Martin Bock und Pfarrerin Dorothee Schaper bot der Abend eine gelungene Mischung aus Vorträgen, Diskussion und aktiver musikalischer Auseinandersetzung mit der Thematik. Den Anfang machte der emeritierte Theologie-Professor der Universität zu Köln, Dr. Johann Michael Schmidt, der seit langem das Verhältnis von Theologie und Musik in den Passionen Johann Sebastian Bachs untersucht.

„Am Text der Johannespassion gibt es nichts zu beschönigen!“
Sein Ausgangspunkt sind die unterschiedlichen Textarten, aus denen die Johannespassion aufgebaut ist. Zunächst gebe es zitierte Bibeltexte (überwiegend aus Joh. 18 und 19), die in Rezitativen und Chören das erzählerische Grundgerüst bildeten. Sie entstammten dem ersten Jahrhundert nach Christus, also einer Zeit, in der die Christen den Juden und Römern gegenüber eine Minderheit darstellten und sich mit judenfeindlichen Texten abgrenzten. Für diese Passagen aus der frühchristlichen Findungsphase sei es wichtig, sie nicht als generelle Typisierung, sondern in ihrem historischen Kontext zu verstehen.

Historische Verwurzelung berücksichtigen
Auf der anderen Seite kämen in Chorälen und Arien frei gedichtete Stücke hinzu. Diese lieferten den Kommentar zur biblischen Handlung und seien nach Luther „Nutz und Brauch der Passion“, da sie deren Heilsbedeutung aufzeigten und eine Identifikation der Hörer mit der Erzählung verfolgten. In ihnen, so Schmidt, trete eine indirekte Judenfeindlichkeit zutage, da die Juden als Teile des göttlichen Heilsplans instrumentalisiert, gleichzeitig aber als Empfänger der Erlösung ausgeschlossen würden. Auch bei diesen Texten, deren Quellen vielfach ungeklärt seien, müsse ihre historische Verwurzelung im 17. und 18. Jahrhundert berücksichtigt werden. Schmidts Fazit war zugleich ein Appell: Es muss weiter nach neuen theologischen Deutungsrahmen der Johannespassion gesucht werden, und: „Jede Hörerin, jeder Aufführende muss sich die Frage stellen, wo die Opfer von Antijudaismus und Antisemitismus in seinem persönlichen Erleben der Musik Bachs Raum finden.“

Was tun mit den neuen Einsichten?
Die anschließende Fragerunde bildete den Übergang zu einem Gesprächsangebot, bei dem die nachdenklich gestimmten Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemeinsam nach Antworten auf die aufgeworfenen Fragen suchten. Welche Position kann man einnehmen zwischen der Ablehnung der antijudaischen Texte und der Verherrlichung von Bachs Musik? Kann Musik überhaupt politisch sein, oder steht sie nicht gar losgelöst vom Inhalt? Kann man die Johannespassion weiterhin ohne schlechtes Gewissen singen und hören?

Liedzeilen wollten nicht über die Lippen
Dieser Gewissensfrage wurde auch auf sängerische Weise nachgegangen. Dazu hatte Christa Kirschbaum, Landeskirchenmusikdirektorin der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, den Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ mitgebracht. Nachdem man sich zuvor so ausführlich mit der impliziten Judenfeindlichkeit beschäftigt hatte, gab es nun Textzeilen und Wörter, die den Sängerinnen und Sängern gar nicht mehr so gut über die Lippen wollten, zum Beispiel der „Gnadenthron“ oder die „Freistatt aller Frommen“. Christa Kirschbaum forderte ihren Chor daher dazu auf, diese Wörter beim Singen auszulassen, länger auszuhalten oder in einem gesummten Durchgang laut herauszurufen. Eine ungewöhnliche Methode, die bei den Teilnehmenden eine tiefe und sehr bewusste Verinnerlichung der Problematik erreichte und andächtige Stille hervorrief. Die Schönheit der Musik durfte jedoch auch nicht zu kurz kommen: „Und jetzt noch einmal so wie bei Bach!“, rief am Ende der Übung eine musikbegeisterte Teilnehmerin, deren Wunsch gern stattgegeben wurde.

Gebotene Sensibilität im Hinblick auf Antijudaismus
Nachdem sich alle bei einer heißen Suppe aufgewärmt hatten, wurde es konkret: Christa Kirschbaum stellte Ideen und Material vor, die beim bewussten Umgang mit den Passionen Bachs helfen können. Von Textarbeit mit dem Chor über Vermittlung der Gedanken an Publikum und Gemeinde bis zur Neugestaltung von Aufführungen waren spannende, teils kontrovers aufgenommene Anregungen dabei. Unter den Teilnehmenden kam die Frage auf, wie es denn praktisch und ganz konkret in der Gemeinde gelingen könne, dass auch andere Texte aus den Evangelien und dem Gesangbuch mit der gebotenen Sensibilität im Hinblick auf Antijudaismus, Frauenfeindlichkeit und überholten Inhalten behandelt werden. Einig war man sich, dass Theologie und Kirchenmusik in Zukunft stärker vernetzt werden müsse.

Eine neue Perspektive des Mitleidens“
Zum Workshop gekommen war auch Eckhardt Kruse-Seiler, Regisseur der szenischen Aufführungen der Johannespassion, die am 5., 6. und 7. März in der Kölner Trinitatiskirche zu hören ist. Zum Abschluss des Abends stellte er die Hintergründe dieser Inszenierung vor. Für den studierten Schauspieler und Kirchenmusiker gehören die Passionen nicht in den Konzertsaal, sondern in die Kirche, deren zeremonielle Wurzeln dem Theater übrigens gar nicht so fern seien. Mit seiner „Ausnahmeproduktion“, die die Musik mit Texteinschüben von Walter Jens immer wieder unterbricht, stellt er die Figuren Judas und Pilatus in den Mittelpunkt. Die neu geschriebenen Monologe der beiden Männer sollen dem Publikum „Augen und Herz für eine neue Perspektive des Mitleidens öffnen“.

Premiere am 5. März 2015
Wer mehr über den Judasprozess und das Judentum in der Johannespassion erfahren will, dem seien noch die Begleitveranstaltungen ans Herz gelegt, bevor am Donnerstag, 5. März, 20 Uhr, in der Trinitatiskirche Premiere gefeiert wird. Hier geht es zum Begleitprogramm.

Text: Kristina Pott
Foto(s): Kristina Pott