Eine ausgesprochen bildhafte Stadtpredigt erlebten die Besucher des Abendgottesdienstes am Vierten Advent in der voll besetzten Antoniterkirche. Gehalten wurde sie von Fritz Pleitgen, seit über zehn Jahren Intendant des Westdeutschen Rundfunks (WDR) in Köln. Er war als siebter „Verantwortungstragender der Gesellschaft“ eingeladen, um in der Reihe zur Frage „Was hält Köln/eine Gesellschaft zusammen?“ zu sprechen. Wortmächtig beschrieb der ehemalige ARD-Auslandskorrespondent mit sonorer Stimme eigene Assoziationen und Erfahrungen mit dem Thema Stadt. Er ergründete biblische Verhältnisse und gegenwärtige Gegebenheiten, plädierte für eine größere Offenheit des Denkens, mithin für ein unabdingbares, fruchtbares Miteinander von verschiedenen Individuen, Gruppen und Kulturen.
Klüngler, „Raffkes“ oder „Müllmänner mit weißem Kragen“?
Pleitgen blickte natürlich auch auf Köln. „Was hält diese Stadt zusammen? (…) Ist es der Klüngel, die eine Hand, die die andere wäscht? Sind es die Raffkes, die im seriösen Zweireiher virtuos das Geld anderer Leute in die eigene Tasche schaufeln? Sind es die ´Müllmänner´ im weißen Kragen, die sogar noch den Abfall in Gold verwandeln?“ Oder, fragte der Journalist, seien es die rhythmische Wiederkehr der Bräuche und Rituale, das urbane Leben mit Oper, Schauspiel und Kabarett, das Welttheater im Kleinen auf dem Laufsteg der Boulevards? Oder die gemeinsam erlebte und erlittene Geschichte, der Bürgerstolz, das kollektive Langzeitgedächtnis, tradierte Erfahrungen? Das alles spiele eine Rolle. Aber, veranschaulichte Pleitgen: „Was eine Gesellschaft trägt und zusammenhält, sind die Menschen, konkrete, namenlose Menschen, ganz alltägliche. Nicht die Festredner und Neujahrssprecher, nicht die Honoratioren und Amtsträger, sondern die Frau und der Herr Schmitz von nebenan.“ Menschen, die dem Nachbarn wie Fremden selbstlos helfen, die Zivilcourage zeigen würden. „Sie entscheiden über die Wohnlichkeit der Stadt und eines Landes. Sie halten zusammen und fügen zusammen, was zusammen gehört. Ohne sie wären auch die Honoratioren und Stadtoberen nur wie Fische ohne Wasser.“
Eben so wenig möchte Pleitgen den Beitrag der Religionen unterschätzen, „dort, wo sie ermutigen und ermuntern, wo sie trösten und heilen, wo sie aufrichten und nicht niedermachen, wo sie böse Leidenschaften dämpfen und die guten entfachen, wo sie den Fernen und Fremden zum Nächsten machen“.
Medien „befeuern das Selbstgespräch der Allgemeinheit“
Die Medien würden das Bildnis der Gesellschaft spiegeln. Sie „schauen den Mächtigen auf die Finger, verbreiten den Geistesblitz des Einzelnen und kleiner Gruppen und befeuern das unablässige Selbstgespräch der Allgemeinheit“, sagte Pleitgen, der seit September 2002 auch als Vizepräsident der European Broadcasting Union (EBU) amtiert, einem Zusammenschluss von 71 Fernseh- und Rundfunktanstalten aus 52 Ländern Europas, Nordafrikas und des Nahen Ostens. „Befruchten können sie aber auch nur dort, wo sie ermutigen und nicht niedermachen.“
„Suchet der Stadt Bestes!“ zitierte Pleitgen Jeremia. Dieses Wort würde selten recht verstanden, denn es habe einen ganz ungewöhnlichen Sinn, stellte der ehemalige ARD-Vorsitzende fest. Man glaube es kaum, aber der Prophet meine die Stadt des Feindes. Er fordere seine besiegten und innerlich vernichteten, ins babylonische Exil verschleppten Landsleute auf, „sich nicht in fruchtlosen Rachephantasien und klagender Starre zu verzehren, sondern aus ihrer Situation das Beste zu machen, auf die Fremden zuzugehen und eine konstruktive Rolle zu übernehmen“. In der Antike sei dies ein unglaublicher Vorgang gewesen. Er zeigt eine Offenheit und Zukunftsfähigkeit des Denkens, die damals einmalig war und es heute noch immer wäre.“
Vielfalt der menschlichen Sprachen
Wie schon einige seiner Vorredner kam Pleitgen auch auf den babylonischen Turmbau zu sprechen. Dieser warne vor himmelstürmendem Größenwahn und biete zugleich etwas Wunderbares und Kostbares: „Die Vielfalt der menschlichen Sprachen, die Buntheit der Titel, Thesen und Temperamente. Die bürgerliche Stadt und die Zivilgesellschaft eines demokratischen Staates sind der prädestinierte Schauplatz dieser Vielfalt. Sie leiden nicht darunter, sondern freuen sich daran.“ Laut Pleitgen beschreibt die Geschichte um diesen Turm „das fassunglsose Staunen und sogar das Grauen wandernder Hirten und Kleinbauern in der Weite der Landschaft vor der plötzlichen ´Vertikalen´, die sich aus der Ebene erhebt mit ihrer ungeheuren Verdichtung von Menschen und Gegenständen, von Arbeitsteilung und Tempo, von Reichtum und Macht.“
Raum und Zeit – neu bewertet
Vielleicht, so der Journalist, gebe es neben den Phänomenen der Zeit und des Raumes ebenso eine „Kultur der Zeit“ und eine „Kultur des Raumes“. „Die Kultur der Zeit ist eilig, immer im Wettlauf, sie drängt zusammen, sie türmt empor, sie teilt auf und sie lebt im Takt.“ Es sei eine fordernde, allgegenwärtig den Rhythmus bestimmende Zeit. Diese in Westeuropa, Japan und vor allem den USA entwickelte Kultur stehe auch für wissenschaftliches Denken, unermüdliches Forschen, für Gesetze und Regeln, Produktorientierung und abzählbaren Erfolg.
Die Kultur des Raumes dagegen türme nicht auf, sondern breite aus. „Sie konzentriert nicht auf den Punkt, sondern streut in die Weite.“ Ihr Zeitgefühl entspreche dem Kreis, der Wiederkehr gleichbleibender Perioden, langsam, geduldig, gewährend. Ihr Takt seien die Tages- und Jahreszeiten, das Auf und Ab des Lebens. Die Kultur des Raumes, die in Afrika, in den Weiten Asiens und in den arabischen Völkern lebe, akzeptiere die Widersprüche. Ihr Medium sei nicht die Zahl und die Formel, sondern die erzählte Geschichte.
„Wo sich beide Kulturen begegnen, etwa im Eigelsteinviertel, können sie sich befruchten und von einander lernen“, stellte der WDR-Intendant einen lokalen Bezug her. „Wo sie mit Machtansprüchen zusammenstoßen, kommt es zu Missverständnissen und Ängsten.“ Die christliche Religion, vermutete Pleitgen, habe hier ein hilfreiches Verstehenspotential. „Und zwar, wenn sie sich ihrer eigenen Wurzeln erinnert, denn ihre Herkunft ist die Raumkultur der Bibel und die Erzählkultur des Orients.“
Gute Städte – böse Städte
„Draußen in der Welt laufen die Bürger durch ihre Hohen Straßen und Schildergassen, über ihre Domplatten und Neumärkte.“ Sie alle seien verletzlich und sehr sterblich. „Die meisten kommen trotzdem heil nach Hause, und das hat Gründe, von denen sie gar nichts ahnen.“ Pleitgen klärte auf: „Es gibt nämlich gute Städte, und es gibt böse Städte.“ In einer guten Stadt gehe man mit federndem Schritt auf schwingenden Straßen und Wegen. „In bösen Städten kleben die Schuhe am Asphalt.“ Alles wiege schwerer, man finde und verstehe nichts. „Die guten Städte bergen und beschirmen ihre Bewohner, auch den Fremdling, der an die Tür klopft.“ Sie würden Kinder zu eigenen Schritten ermutigen, Raum bieten für Geselligkeit und Einkehr, Arbeit und Spiel, Streit und Versöhnung. „Bei Nacht hüten sie die Träume der Menschen und verweben sie zu einem großen, zu einem leuchtenden Netz, das auch am Tage noch Segen stiftet.“
Im Gegensatz zur bösen Stadt, die die harten Worte zusammentrage und verstärke, sammle die gute Stadt die guten Worte, füge sie freundlich zusammen und wärme damit unaufdringlich die Plätze und Gassen. „Sie ist einfach nur da und wirkt leise mit, lässt geschehen wie ein gesunder Leib.“ Wo nötig, biete sie eine Quelle für einen Brunnen, stelle sie Platz für ein Wahrzeichen bereit, öffne sie Türen, die zur Theke, zum Bier und vor allem zur Verständigung führen. „Eine solche Stadt hat offene Tore und Sinne für Ideen, die von außen kommen, für reisende Komödianten, die hier ihre Bude aufschlagen dürfen, für Spinner und Träumer, die merkwürdige Zeichen auf Papier und Leinwand malen“, machte Pleitgen auch einen „kulturpolitischen“ Abstecher, um mit einem subtilen Dank seinen sehnsuchtsvollen Vortrag zu schließen: „Da gibt es sogar Kirchen, die einem altgedienten Medienmann ihre Kanzel öffnen.“
Tipp
Den Text-Entwurf von Fritz Pleitgen können Sie hier nachlesen.
Foto(s): Engelbert Broich