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Improvisierter Haftraum auf der Schildergasse

„Nicht du und kein Vertreter der Kirche kann sich die Gnade Gottes erarbeiten oder erkaufen.“ Mit diesem Reformationsgedanken zogen der evangelische Seelsorger Carsten Schraml und die Seelsorgerinnen Eva Schaaf und Claudia Malzahn von der Justizvollzugsanstalt Ossendorf erstmals auf die Schildergasse.

Sie suchten das Gespräch mit Passanten und luden ein in eine Haftzelle, die von der Arbeitstherapiegruppe „Holz“ in der JVA für die Aktion vor der Kölner Antoniterkirche nachgebaut worden war. Aus dem Gefängnis stammte allerdings die karge Möblierung.

Gnade uns Gott!
Im Jahr des 500. Reformationsjubiläums stand unter der Überschrift „Schuld und Vergebung – da gnade uns Gott!“ unter anderem der Ablasshandel, mit dem Martin Luther aufräumte, im Mittelpunkt. „Die Idee, in die Kölner Innenstadt zu gehen, entwickelte sich aus einem Themengottesdienst in unserer Kirche auf dem Gelände der Haftanstalt. Wir setzten uns mit Kernpunkten evangelischer Theologie auseinander, und einer heißt 'sola gratia – allein durch die Gnade'“, erklärte Schaaf ein Grundelement der reformatorischen Lehre, nach dem der Mensch allein aus Gottes Gnade und nicht durch sein Handeln gerecht wird.

Die Schuldverstrickung
Ohne die Schuld von Strafgefangenen schmälern zu wollen, verdeutlichten die JVA-Seelsorger, dass sich niemand frei von Schuld sprechen kann. Deshalb auch die Wahl des Ortes in der belebten Einkaufsstraße, wo täglicher Konsum stattfindet. Manche nehmen die Schildergasse zunehmend aber auch als Tatort wahr: „Gesetzesverstöße wie Taschendiebstahl werden geahndet, nicht aber Verstöße gegen die Ethik, wenn wir Billigprodukte kaufen, die – wie allgemein bekannt – unter unmenschlichen Bedingungen hergestellt werden“, gaben die Seelsorger zu bedenken.

Vergebung erbitten ist schwer
Wie schwer es Menschen fällt, die eigene Schuld einzugestehen, sie anzunehmen und um Vergebung zu bitten, zeigten Texte von Strafgefangenen. Lange Zeit sei ihm zum Thema Vergebung nichts eingefallen, schreibt der 35-jährige Thomas W. „Über Zorn-Hass-Rache-Wut hätte ich so um die 10 Seiten schreiben können, denn dies wäre einfach gewesen“, meint der JVA-Insasse. Und er fragte, wie und bei wem er um Vergebung bitten soll, und ob es tatsächlich damit getan sei, sich bei seinen Opfern zu entschuldigen.

Die Angst vor der Hölle
Carsten Schraml war jahrelang in Kaarst und Neuss als Gemeindepfarrer tätig, bevor er sich vor vier Jahren entschloss, Gefängnisseelsorger zu werden. Sein bisher entscheidendstes Erlebnis war die Begegnung mit einem Mann, der einen Menschen getötet hatte. „Von der Not getrieben, seine Seele sei nun für die Hölle vorgesehen, suchte er das Gespräch mit mir“, berichtete Schraml. Er konnte den Gefangenen trösten. Denn zu den großen reformatorischen Errungenschaften gehört der Glaube, dass Gerechtigkeit allein aus der Gnade Gottes kommt.

Ein Buch half beim Umdenken
Wie die meisten Strafgefangenen war Peter, der seinen richtigen Namen nicht nennen wollte, beschäftigt mit der Angst vor dem Eingesperrtsein. „Die Geste, dass mir die Gefängnisseelsorger ein Buch schenkten, hat mir geholfen“, erzählte der 23-Jährige, der inzwischen seine Strafe verbüßt hat. Obwohl sich der junge Mann als religionsfern bezeichnet, hielt er nach der Entlassung Kontakt – und wirkte nun bei der Seelsorgewochen-Aktion auf der Schildergasse mit.

Mut und Hoffnung weitergeben
Das Buch des Pfarrers handelt von Frauen, deren Familien während der Judenverfolgung ermordet wurden. Sie schildern, wie sie es schafften, weiterzuleben mit den Gräueln, die ihnen angetan wurden. „Dagegen ist das, was ich durchmache, gar nichts“, dachte Peter. Den Mut und die Hoffnung, die ihm das Geschenk bereitet haben will er weitergeben. Außerdem engagiert er sich im JVA-Besuchsdienst und steht mit einigen Gefangenen in Briefkontakt.

Schuldig geworden beim Protest
Beim Protest gegen einen Nazi-Aufmarsch in Österreich wurde Peter gegenüber Polizisten gewalttätig. Heute sagt er, dass Körperverletzung niemals ein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein darf. Der junge Umweltaktivist wurde inzwischen wegen verschiedener Widerstandsaktionen gegen die Rodung des Hambacher Forstes durch den RWE-Energie-Konzern für mehrere Monate inhaftiert. Jetzt hofft er auf einen Ausbildungsplatz zum Rettungssanitäter. Als Helfer von Strafgefangenen hat er sich bereits bewährt.

„Wir klopfen an die Tür“
Die Interessierten an der Aktion konnten im Gespräch unmittelbar erfahren, mit welcher Haltung Carsten Schraml, Eva Schaaf und Claudia Malzahn ihre Arbeit versehen. Gefangene hingegen müssen einen Antrag stellen, wenn sie ein Gespräch mit den Seelsorgern wünschen. Eva Schaaf erklärt ihren Respekt vor ihnen: „Bevor wir mit unseren Schlüsseln eine Zellentür aufschließen, klopfen wir an.“

Text: Ulrike Weinert
Foto(s): Ulrike Weinert