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Immer mehr Frauen haben keine Perspektive: Im Elisabeth-Fry-Haus bestätigt sich der deutsche Armutsbericht

Der von der Bundesregierung jüngst herausgegebene 2. Nationale Armuts- und Reichtumsbericht hat vielerorts Reaktionen bewirkt. Beim  Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V. stieß er auf eine breite Zustimmung. „Die Zahl der Menschen, die von Einkommen auf dem Sozialhilfeniveau lebt, ist durch die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf sechs Millionen gestiegen“, so Jürgen Gohde, Präsident des Diakonischen Werkes der EKD, in seinem Statement. Ob durch diese Maßnahmen schließlich die wirtschaftliche Situation verbessert und die Arbeitslosigkeit gemildert werden könne, werde „die kommende Zeit“ zeigen. „Wenn aus diesem Prozess die sozialen Sicherungssysteme wieder gestärkt hervorgehen, können auch die Schwachen Teilhabemöglichkeiten und eigene Verantwortung stärker wahrnehmen.“

Leistungsfähigkeit der sozialen Systeme erhalten und ihre Nachhaltigkeit sichern
In seiner Stellungnahme zum Bericht teilt das Diakonische Werk weiter mit, dass es die von der Bundesregierung darin „fixierten grundsätzlichen Zielsetzungen der aktuellen Sozialpolitik“ unterstütze: „Teilhabe fördern, Teilhabe- und Verwirklichungschancen bereit stellen und Grundbedürfnisse sichern. Darüber hinaus soll die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme erhalten und ihre Nachhaltigkeit gesichert werden.“
Übereinstimmung zwischen Regierungsbericht und Diakonischem Werk besteht auch in dem Ansatz, „keine einheitliche Armutsdefinition – etwa allein durch das Einkommen bestimmt – zum Ausgangspunkt zu nehmen, sondern die Lebenslagen und -chancen differenziert zu betrachten“. Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland hätten in ihrem gemeinsamen Wort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ bereits festgestellt, „Armut hat viele Gesichter und viele Ursachen.“ Häufig kämen „bei bedürftigen Menschen mehrere Belastungen zusammen“. Beispielsweise geringes Einkommen, lang andauernde Arbeitslosigkeit, hohe Verschuldung, ungesicherte und zudem schlechte Wohnverhältnisse, chronische Erkrankungen, psychische Probleme und soziale Ausgrenzung.

Nicht nur im Elisabeth-Fry-Haus: verschiedene Gesichter der Armut
Mit diesen verschiedenen Gesichtern der Armut sind die Mitarbeitenden des Elisabeth-Fry-Hauses in Köln-Raderthal täglich konfrontiert. Das Elisabeth-Fry-Haus in der Albert-Schweitzer-Straße 2 ist ein Wohn- und Aufnahmheim für Frauen und Frauen mit Kindern in allgemeinen Notsituationen. Es befindet sich in Trägerschaft des Diakonie Michaelshoven e.V., und ist dessen Unternehmensbereich Wohnungslosenhilfe zugeordnet. Ob es sich um Opfer von häuslicher Gewalt, um wohnungslose, suchtgefährdete oder psychisch belastete Frauen handelt, um Frauen mit psychosozialen und/oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten – das Elisabeth-Fry-Haus unter Leitung von Sylvia Arndt bietet ihnen akute wie längerfristige Hilfe, bietet umfassende Beratung und Begleitung.

Keine Tendenz für eine baldige Besserung in Sicht
Arndt und die Unternehmsbereichs-Leiterin Birgitta Neumann de Zavala haben den Armutsbericht der Bundesregierung ebenfalls aufmerksam gelesen. „Wir können ihn absolut bestätigen“, sagte Neumann de Zavala bei der kürzlich erfolgten „Rückmeldung“ über die Arbeit des Elisabeth-Fry-Hauses im vergangenen Jahr. „Und wir sehen keine Tendenz für eine baldige Besserung.“ Der Bericht belege unter anderem, dass die eigene Arbeitslosigkeit oder die des Partners das größte Problem darstelle. „Wenn schon hoch qualifizierte Menschen Probleme haben, niedriger qualifizierte Jobs zu bekommen, wie sollen dann Menschen ohne Ausbildung und sozial Schwache, die nicht die besten Voraussetzungen haben, zurecht kommen?“, sagte Arndt. Diese Verschiebung auf dem Arbeitsmarkt, die Veränderung der Zumutbarkeitsregel, dränge diese Menschen mitsamt ihren Kindern immer weiter an den Rand.

Wer aus der Gesellschaft „raus kippt“, braucht Hilfe
In dem Bericht finde sich die Klientel des Wohn- und Aufnahmeheims wieder, so die Unternehmsbereichs-Leiterin: „Das sind Frauen in Trennungssituationen und mit Gewaltproblemen im häuslichen Bereich, auch Alleinstehende, Frauen, die arbeitlos sind, von Armut und Wohnungslosigkeit bedroht.“ Diese Menschen seien gefährdet, aus der Gesellschaft „raus zu kippen“. Man werde „zukünftig noch mehr zu tun bekommen, weil die Menschen nicht wissen, wo sie leben sollen“.
„Wir beobachten, dass die Frauen nicht mehr nur ein Problem, sondern oft in jedem Bereich Schwierigkeiten haben“, so Neumann de Zavala. „Ein massives Problem ist etwa die hohe Verschuldung durch Handy-Nutzung und Katalog-Bestellung, aber auch das Unterschreiben von Verträgen für den Partner. Viele der Betroffenen wissen einfach nicht, wie es weiter gehen soll. Sie haben große Schwierigkeiten, den Alltag mit seinen zahlreichen Anforderungen, zum Beispiel das Ausfüllen von Anträgen, normal zu regeln.“

Immer mehr Frauen haben keine Perspektive
Als eines der zentralen Notaufnahmeheime in Köln registrierte das Elisabeth-Fry-Haus im Jahr 2004 exakt 1299 Aufnahmen, darunter 265 junge Kinder. „Die Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr leider stabil geblieben“, stellte Neumann de Zavala fest. „Und die Tendenz ist eher steigend.“ In der Hauptsache seien es deutsche und türkische Frauen. Insgesamt seien aber alle Nationalitäten vertreten. „Die am häufigsten betroffen Gruppe ist die der 20- bis 40-Jährigen“, so Neumann de Zavala. Und die Zahl der jungen Frauen nehme, analog zum Bundestrend, stetig zu. „Es sind Frauen, die keine Perspektive haben, entwurzelte Frauen.“ Das Problem beginne bereits bei der Jugendarbeitslosigkeit und setze sich dann nahtlos fort. „Diese Menschen haben keine Biographien, von denen Arbeitgeber begeistert sind. Es klingt klischeehaft, aber wir haben die Sorge, dass sich bei uns rasant eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entwickelt“, befürchtete Neumann de Zavala. Denn ein Arbeitsplatz biete nicht nur Einkommen, sondern ebenso Integration in einem Arbeitsumfeld und gesellschaftliche Anerkennung. „Die Menschen, die bei uns landen, haben ganz geringe Chancen darauf.“

Für die misshandelten, gedemütigten, Problem beladenen, oft traumatisierten Frauen stehen in Raderthal 57 Wohnheim- und Notaufnahme-Plätze zur Verfügung. Hinzu kommen 13 Plätze in drei Außenwohngruppen im Stadtteil Meschenich und in der Mutter-Kind-Wohngruppe in Kalk. Die Hilfesuchenden, so Arndt, könnten im Elisabeth-Fry-Haus rund um die Uhr Aufnahme finden. „In der Regel werden sie von der Polizei gebracht oder von sozialen Einrichtungen hierher verwiesen.“ Aber das alte Hilfesystem erfahre momentan einen Umbruch. Die klassischen Anlaufstellen wie das Sozialamt seien nicht mehr zuständig.

Die Spirale der Gewalt ist schwer zu durchbrechen
Innerhalb von drei Tagen werde gemeinsam mit den Frauen in Not ein Hilfsplan entwickelt. „Wir versuchen zu klären, was die Person braucht, welche Schritte einzuleiten sind“, erläuterte Arndt. Ein Großteil gehe nach Beruhigung der Situation zurück in die eigene Wohnung. „Aber viele kommen wieder. Die Spirale der Gewalt ist schwer zu durchbrechen“, sagte Neumann de Zavala.
„Häusliche Gewalt zieht sich durch alle Schichten“, so Arndt. Aber die unteren Schichten hätten aufgrund ihrer Mittel- und Arbeitslosigkeit wesentlich schlechtere Chancen, nach der Trennung vom Partner ein eigenes Leben aufzubauen und Stabilität zu erreichen. „Häusliche Gewalt ist aus der Tabugrenze herausgekommen“, betonte Neumann de Zavala. „Dies erklärt auch, dass die Zahlen steigen.“ Zu verdanken sei das insbesondere dem veränderten Gewaltschutzgesetz. Im Zuge dessen werde auch die Polizei besser geschult, die wiederum die misshandelten Frauen umfassender informieren könne. Etwa über die Möglichkeit, den gewalttätigen Partner der Wohnung verweisen zu lassen – „früher hatte frau kaum Chancen darauf“. Ebenso über die Möglichkeit, in Notaufnahmeheimen wie dem Elisabeth-Fry-Haus weitreichende Unterstützung zu finden.
Aber auch mit dem neuen Gesetz bleibe eine Ohnmacht, bedauerte Arndt. „Frauen fürchten sich weiter vor dem Partner. Das familiäre Umfeld übt Druck aus.“ Bei den Betroffenen herrsche emotionale Abhängigkeit und Resignation vor. „Viele trauen sich aufgrund ihres geringen Selbstwertgefühl nicht, das Leben hinzukriegen. Dem arbeiten wir entgegen.“

Tipps
Eine ausführliche Position des  Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V. zum zweiten Nationalen Armuts- und Reichtumsbericht finden Sie unter www.diakonie.de/stellungnahme, eine Zusammenfassung der Position hier bei uns im Internet.

Mehr zum Thema „Armut in Deutschland“ , ausführlich und fundiert hat Birgitta Neumann de Zavala,  Unternehmsbereichs-Leiterin der Diakonie Michaelshoven, im „Michaelshovener Brief“ Juni-August 2005 beschrieben, nachzulesen hier.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich