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Vortrag und Gespräch mit Rabbiner Yechiel Brukner

„Ich bin ein doppelter Apostel“: Vortrag und Gespräch mit Rabbiner Yechiel Brukner von der Synagogen-Gemeinde Köln in der Melanchthon-Akademie

Einen sehr persönlich gehaltenen Vortrag erlebten rund siebzig Interessierte in der Melanchthon-Akademie. Yechiel Brukner ist seit 2018 Rabbiner in der Synagogen-Gemeinde Köln. Nun sprach er auf Einladung der Erwachsenenbildungseinrichtung des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region, des Theologischen Ausschusses der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der Karl Rahner Akademie sowie des Katholischen Bildungswerkes über sein Leben und Wirken.

Doppelter Apostel

Und er begründete, weshalb er sich als ein „doppelter Apostel“ versteht. Ein Apostel sei ein Bote, der  eine Idee weiterzugeben habe. „Israel ist ein integraler Bestandteil des Judentums“, lautet Brukners Überzeugung. Für ihn „ist das Judentum nicht von Israel zu trennen“. Seit Antritt seiner Tätigkeit in Köln wohnen die Brukners drei Wochen am Rhein und eine zuhause – in Israel. Mit dem Wechsel in die eine oder andere Richtung hinterlasse man jeweils eine bestimmte Botschaft, so der Rabbiner. Gehe es nach Israel, laute sie: „Unser Zuhause ist Israel.“ Reise man umgekehrt nach Köln, heiße es für die Freunde und Gemeinden in Israel: „Ihr sollt wissen, es gibt hier immer noch Brüder und Schwestern im Exil, viele jüdische Gemeinden außerhalb von Israel.“

„Es ist meine Aufgabe, unverblümt meine Meinung zu sagen“, stellte Brukner im Laufe des Abends fest. Da hatte sich der 62-jährige Sohn eines Holocaust-Überlebenden den Zuhörenden längst schon als einfühlsamer und begeisternder Erzähler gezeigt. Als jemand, der bei aller Ernsthaftigkeit und Bestimmtheit Sachverhalte auch humorvoll-gelassen, ja mit einer ironischen Note zu vermitteln weiß. Als jemand, der seine pädagogischen und rhetorischen Fähigkeiten nicht leugnen kann.

Treffen des Theologischen Ausschusses

In seiner Begrüßung dankte Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchthon-Akademie, Brukner für dessen Offenheit in den Treffen des Theologischen Ausschusses. „Sie haben Ihre Sorgen offenbart, uns sofort herausgefordert, menschlich und spirituell.“ Bocks Wunsch, dass dieser Funke auch auf die Anwesenden überspringe, erfüllte sich rasch.

Er könne schon viel Gutes über die christlich-jüdische Zusammenarbeit in Köln sagen, so Brukner eingangs. Er zeigte sich beglückt darüber, dass sich auch hier Menschen für das interreligiöse Gespräch engagierten. Ein großes „Bravo!“ gelte der Kölnischen Gesellschaft. Es sei zutiefst beeindruckend, was in Köln zu diesem Thema alles passiere. Gerade auch in der Melanchthon-Akademie.

Brukners Geschichte

Brukner sprach von seinem Vater, der als einziger seiner Familie die Deportation aus Polen und den Holocaust durch ein Wunder überlebt habe. Zuletzt sei er im KZ Buchenwald inhaftiert gewesen und von amerikanischen Soldaten befreit worden. Da er sich auch gegenüber Behörden in der Schweiz jünger gemacht habe, habe er mit jugendlichen Holocaust-Überlebenden über einen Kindertransport „zur Erholung“ in das Alpenland einreisen können. Durch eine weitere List habe er seinen Aufenthalt „verlängert“, und dort bis zu seinem Tod 1980 mit seiner Frau gelebt. Sieben Kinder seien aus der Ehe hervorgegangen. „Von ihnen leben noch sechs, und alle sechs in Israel. Ich meine auch mich“, so Brukner. Wirklich leben, „mit meiner Seele verbunden“, das könne er nur in Israel. „Das schaffe ich in Deutschland nicht. Können sie das verstehen?“

In seinem Geburtsland Schweiz sei der christlich-jüdische Dialog das Natürlichste auf der Welt gewesen, berichtete er von sehr positiven Erfahrungen auch in der Schule. „Mein Vater hat seine besten Jahre mit Überleben verbracht. Ich wollte etwas tun für das Überleben des Judentums“, erklärte der Rabbiner. Sein „kleiner Beitrag an die jüdische Welt ist, dass ich mich an die jüdische Bildung gemacht habe“. Zunächst in Montreux. Diese Zeit des Lernens an einer Talmud-Hochschule bezeichnete er „als die schönsten Jahre meines Lebens“.

Dann starb der Vater. Und beim Sohn entwickelte sich der Wille, der jüdischen Gemeinde etwas zurückzugeben. Fünf Jahre unterrichtete er Religion in unteren Klassen. In dieser Zeit lernte er seine Frau kennen, wurden die ersten beiden ihrer sechs Kindern geboren und reifte der Entschluss, nach Israel überzusiedeln: „Wir haben genug theoretisiert, wir müssen das jetzt umsetzen. Das Thema Israel war immer ein integraler Bestandteil unserer Lehre. Wie kann man stets Judentum mit Israel verbinden, und es selbst nicht tun?“

Ihre Einwanderung nach Israel bezeichnete Brukner als spirituellen Aufstieg. Dort studierte er zunächst an einem Jerusalemer Institut, wurde zum Rabbiner ordiniert und unterrichte weitere „17 gute, glückliche Jahre“ in Afula an einem Gymnasium mit Talmud-Orientierung. Dann, vor fast zwölf Jahren, begann für das Ehepaar das Kapitel Deutschland. Fünf Jahre agierte er in München als Teamleiter einer jüdischen Hochschule.

Jüdische Identität

Gleichzeitig sei er beauftragt worden, in jüdischen Gemeinden in Deutschland die jüdische Identität zu stärken, so Brukner über seine Mission. Mit dem Fall der Mauer und Zusammenbruch der Sowjetunion sei ein großer Zuzug von Juden aus den (ehemaligen) GUS-Staaten nach Deutschland erfolgt. Von Menschen, die auch aufgrund der „Umerziehung“ durch das kommunistische System nicht mehr viel mit dem Judentum verbinde. Wenn er versuche, bei Gesprächspartnern „einen Tropfen“ Judentum zu erfragen, werde maximal noch auf Großeltern verwiesen, die vielleicht noch Jiddisch gesprochen hätten. Es seien häufig vom Judentum entwurzelte Menschen. Seine Mission sei, in Gemeinden zu schauen, wo ein „Glütchen“ von der jüdischen Seele vorhanden sei, um sie zum Aufflammen zu bringen. „Ich liebe diese Aufgabe. Das Gute ist, meine Frau auch.“

Köln / Israel

„Werden Sie mit Ihrer Frau irgendwann nach Köln fliegen und sagen, wir fliegen nach Hause?“ eröffnete Norbert Bauer, Leiter der Karl Rahner Akademie, seinen Dialog mit Brukner. „Nie und nimmer“, reagierte der Rabbiner entschieden. Seine Frau und er hätten sich geeinigt: Ihr Haus, ihr Zuhause sei nur in Israel, in Köln die Wohnung. „Wenn wir nach Israel fliegen, gehen wir zurück. Wenn wir nach Köln reisen, gehen wir raus, wir fliegen einfach“, laute ihre interne Sprachregelung.

Wie das bei Kölner Gemeindegliedern ankomme, wollte Bauer wissen. „Es gibt ein Verstehen auf verschiedenen Ebenen.“, so Brukner. „Ich bringe es beinahe fertig, jede Idee in der Thora mit Israel zu verbinden. Die Wahrheit ist nicht immer leicht. Ich bin in der Beziehung sehr radikal.“ Gleichwohl merke er, dass er das wie bei einer Medizin richtig dosieren müsse: „Zu wenig ist auch nicht gut.“

Grundsätzlich sei er nicht bereit, „aus dem Exiljudentum eine Ideologie zu machen“.

Religiöse Bedeutung des Staates Israel

Auf die Feststellung Bauers, dass für ihn der Staat Israel keine religiöse Bedeutung habe, wollte Brukner gleich den Terminkalender zücken, um einen weiteren Vortrag zu vereinbaren. „In der Realität haben wir in der Knesset säkulare und religiöse Juden“, so der Rabbiner. Beide Seiten seien beteiligt an der Formung des Staates. An diesem Ort würden wie in einer Arena die Konflikte ausgetragen. „Einmal macht der ein Tor, einmal der andere“, bemühte er ein Bild aus dem Sport.

„Ich mache ziemlich viel“, antwortete Brukner in der Publikumsrunde auf die Frage nach seinen Tätigkeiten als Rabbiner. Und er zählte auf: Er versuche so viel wie möglich mit Menschen zu sprechen. Er predige im Gottesdienst. Er unterrichte im Kindergarten und in der Grundschule. Er unterrichte parallel zur Schule Fünft- bis Zwölftklässler in jüdischer Religion, habe dabei einen sehr fruchtbaren Kontakt mit den Religionslehrern. Zudem sei er verantwortlich für die Einhaltung der Kaschrut, die jüdischen Speisegesetze. „Aber das wichtigste sind die Gespräche mit den Menschen“, betonte er.

Hoch- und Tiefpunkte

Im Judentum sei es eine heilige Sache, Erinnerung wachzuhalten. Diese Kultur der Pflege der Vergangenheit mache auch seine Lebensqualität aus, bestimme sein Lebensprojekt. Als größten Schatz der Familie bezeichnete Brukner eine 90-minütige Kassette. Auf seine Bitte hin habe sein Vater das Band mit seiner aufregenden Lebensgeschichte besprochen.

Schließlich erzählte Brukner von einer schweren antisemitischen Verbalattacke. In einer Bahn in Köln habe ein Fahrgast ihn und seine Frau, die dem Eingestiegenen ihren Platz anbot, mit den Worten beschimpft: „Das wird an unserem Hass gegen Euch auch nichts ändern.“ Er sei wie versteinert gewesen, so Brukner. „Antisemitismus ist irrational“, lautet seine Überzeugung. Nicht weniger gestört als den aggressiven Akt selbst habe ihn die Tatsache, dass die Umstehenden geschwiegen hätten.

Gleichgültigkeit und Schweigen

Mit dem Kölner Weihbischof Rolf Steinhäuser, der ihn nach dem Vorfall kontaktierte, habe er sich auf ein wichtiges Projekt verständigt: „Wir müssen die schweigende Mehrheit dazu bringen, dass sie in solchen Situationen spricht.“ Dass Menschen bei antisemitischen, antifremden, antireligiösen Äußerungen und Handlungen hinhörten, hinsähen und in irgendeiner Form intervenierten. Dass sie nicht unbedingt handgreiflich werden, aber sich verbal einmischen und womöglich Sicherheitskräfte alarmieren sollten. „Das ist ein intellektueller Entschluss, das muss gelernt werden.“

Man dürfe nicht gleichgültig sein. „Der Aggressor muss wissen, es gibt eine Reaktion.“ Es gelte, dem Opfer seine Solidarität auszusprechen und andere einzubeziehen. „Zivilcourage  stärken!“ laute seine Direktive. Beispielsweise müssten Lehrer und Jugendpfarrer sensibilisiert werden. „Wir haben so viel zu tun.“ Ebenso wichtig sei es, junge Menschen, Schülerinnen und Schüler generell über das Judentum, den Antisemitismus und Holocaust zu informieren, bestätigte Brukner eine weitere Frage aus dem Publikum. Und er tue das gerne, wenn er eingeladen werde.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich