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Gregor Gysi über Reformation und politisches Denken

Nein, es war nicht Weihnachten, als die Gnadenkirche in Bergisch Gladbach aus den Nähten zu platzen drohte. Es war ein ganz ein normaler Freitagnachmittag. Was die Menschen anzog, war ein prominenter und für diesen Ort ungewohnter Gast: Gregor Gysi. Der Politiker und Jurist, der für die Linke im Bundestag sitzt, war vom Bezirk Stadtmitte der Evangelischen Kirchengemeinde Bergisch Gladbach eingeladen worden, um über „Die Bedeutung der Reformation für unser heutiges politisches Denken“ zu sprechen und dies im Talk mit der Berliner Journalistin Dr. Christine Eichel zu vertiefen.

Ein erstaunliches Thema für einen Mann, der gleich zu Anfang klarstellte: „Ich bin nicht religiös, ich war es nie. Das ändert aber nichts an meinem Respekt für die Kirchen.“ Erstaunlich auch, dass sich Gysi für seinen Besuch ausbat, nicht im Gemeindesaal, sondern in der Kirche zu sprechen.

Moderatorin als „Vorgruppe“
Die rund 270 Besucher – teils die Veranstaltung per Übertragung im Saal verfolgend – mussten sich allerdings gedulden. Der Gast hatte Flugverspätung! Hausherr Pfarrer Thomas Werner war erleichtert, dass die Moderatorin einsprang. „Ich bin sozusagen die Vorgruppe“, erklärte sie kurz entschlossen. Schließlich ist sie als Pfarrerstochter von klein auf im Thema verwurzelt und hatte zudem überraschende Einsichten bei den Recherchen zu ihrem Buch „Deutschland – Lutherland“ gewonnen. So erfuhren die Anwesenden, dass Luther nicht nur den Gemeindegesang erfunden habe, sondern auch das Verhältnis der Deutschen zum Geld, den Kleidungsstil und die Leselust geprägt habe – zudem die Entwicklung des dichten sozialen Netzes.

Gysi liest in der Bibel
„Wenn wir nicht die Kirchen und die Religion hätten, hätten wir keine allgemeingültige Moral“, konstatierte Gregor Gysi, nachdem er unter großem Applaus unterm Kreuz angekommen war. Gysi schlug einen erzählerischen Ton in einfacher und pointierter Sprache an, mit der er mehrfach schallendes Gelächter auslöste. So, als er feststellte, dass er „in der Bibel etwas lieber lese als manches Mitglied der CDU“. Die Geschichte des Menschseins und der Menschheit spiegele sich dort wieder und gerade das Neue Testament zeige, wie eine Erneuerung vonstattengehen könne, ohne das Alte auszumerzen.

Bei Erneuerungen: „Nicht überziehen!“
Auch Luther habe dies gewollt. „Es ging um eine Erneuerung der Kirche, nicht um eine Spaltung.“ Der Blick zurück („das finde ich so spannend im Reformationsjahr“) zeige sehr gut, wohin eine Überspitzung führe: zu einer Gegenbewegung. Der übertriebene Ablasshandel bereitete Luther den Boden, die extremen Protestanten beförderten die Gegenreformation. Folglich könne man daraus lernen, dass Überspitzung in der Politik zu vermeiden sei. „Nicht überziehen!“

„Luther lieben, Marx respektieren“
Der Politiker kritisierte, dass die Deutschen eine „ideologische Beziehung zur Geschichte“ hätten. Deshalb gebe es keine Karl Marx-Benennungen von Plätzen oder Straßen, obgleich Marx nichts dafür könne, was man aus seinen Ideen gemacht habe. „Der Staatssozialismus hat sich selbst abgeschafft“, so Gysi, der mit Blick auf das 200. Jubiläum des Theoretikers 2018 hofft: „Ich möchte, dass die, die Marx lieben, auch Luther lieben. Und dass die, die Luther lieben, zumindest Marx respektieren.“

Interessenkonflikte als Weltgefahr
Wer befürchtet hatte, dass der Politiker im Wahljahr seinen Besuch zu Propaganda nutzen könnte, wurde eines Besseren belehrt. Gysi blieb beim Thema. In einem Punkt wurde er dabei vehement politisch: Er bemängelte, dass es zwar eine Weltwirtschaft, aber keine Weltpolitik gebe. „Daher wird die Politik immer schwächer.“ Größte Gefahr seien Interessenkonflikte zwischen Staaten und Systemen. Sie würden Kriegspotenzial bergen. Es sei daher äußerst wichtig, „dass ein Kompromiss gefunden wird“ – und zwar zwischen den wahren Interessen der Kontrahenten.

„Veräußerungserlösgewinnsteuer“
Im Anschluss an den Impulsvortrag nutzte Gregor Gysi das Gespräch mit Dr. Christine Eichel für manche Anekdote aus seinem Alltag. Er erklärte seinen Kampf gegen Wörter wie „Veräußerungserlösgewinnsteuer“, forderte in den Medien auch erfreuliche Nachrichten über Muslime („Die große Mehrheit will sich integrieren“) und blickte kurz auf die Geburt der Deutschen Einheit zurück. „Die Evangelische Kirche spielte dabei eine entscheidende Rolle. Sie wurde zunehmend kesser und frecher.“ Bei der Katholischen Kirche sei das anders gewesen: „Die Katholiken nehmen das mit der Machtstruktur ernst.“

Jugend muss rebellisch sein
Was dem Berliner auch auf den Nägeln brannte: „Die soziale Frage spitzt sich weltweit zu. Die Menschheit rückt zusammen und niemand ist darauf vorbereitet.“ Gerade deshalb appellierte er: „Wir haben nicht das Recht, der Jugend Europa wegzunehmen.“ Von ihr erwarte er allerdings Einmischung: „Die Aufgabe der Jugend ist es, rebellisch zu sein!“

„Ich stehe hier“-Manier
Gysi nahm auch die Kirchen in die Verantwortung: „In der sozialen Frage müssen die Kirchen eine führende Rolle spielen.“ Ganz in Luthers „Ich stehe hier“-Manier müssten sie dabei auch den Mut haben, „sich mit einem Teil ihrer Mitglieder anzulegen“. Diese neue Reformation werde kommen, zeigte sich Gysi – der von Pfarrer Thomas Werner mit dem Turmspitzengel der Gnadenkirche im Miniformat als „Zeichen der Ermutigung“ beschenkt wurde – zuversichtlich. „Vielleicht erlebe ich sie noch.“

Text: Ute Glaser
Foto(s): Ute Glaser