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Gewissen oder Gesetz?

„Im Mittelpunkt die Seele – Seelsorge aus dem Geist der Reformation” sind die Seelsorgewochen der vier Kölner Kirchenkreise überschrieben. Mit Workshops, Gottesdiensten und spirituellen Angeboten werden sie im März nacheinander in allen vier Kirchenkreisen durchgeführt. In der abschließenden Veranstaltung des Kirchenkreises Köln-Süd erläuterte Karsten Leverenz, wie segensreich Martin Luthers reformatorisches Gedankengut gerade auch in Krankenhäusern ist. Leverenz ist Seelsorger im Evangelischen Krankenhaus Köln-Weyertal und Leiter des dortigen Ethikkomitees. Sein Vortrag hielt er im Gemeindezentrum der Evangelischen Kirchengemeinde Köln-Sürth/Weiß.

In früheren Jahren habe der Chefarzt Entscheidungen über Fortsetzung, Veränderung oder Abbruch einer Therapie zumeist „für sich im Kopf” gefällt, teilte er den Zuörern mit. Heute gebe es dafür andere Gremien und Abläufe. Die Medizinlandschaft habe sich deutlich verändert, so Leverenz. Gesellschaft und Politik gingen anders mit dem Thema Arzt-Patient-Verhältnis um. Menschen wollten heute autonom und selbstverantwortlich mitentscheiden. Zudem sei die Leidensbereitschaft gesunken.

Der Wille des Patienten
Leverenz stellte den Teilnehmenden zwei beispielhafte „Fälle“ in existenziellen Situationen vor. In der ersten Variante war der Klinik-Patient noch ansprechbar: „Man bespricht mit ihm, was er für seine Situation, sein Leben wünscht.” Der zweite Patient war nicht bei Bewusstsein: Bei ihm werde geschaut, ob es eine Patientenverfügung gebe und der Partner oder ein anderer mit einer Vorsorgevollmacht bevollmächtigt sei. Es gehe also allein um den Willen und die Belange des Patienten. Wenn „das alles nicht so klar ist“, könne eine ethische Fallbesprechung einberufen werden.

Gemeinsame Entscheidung
Dabei handelt es sich um ein strukturiertes Vorgehen, bei dem die ärztliche und pflegerische Seite, ein Sozialdienst-Mitarbeitender, Physiotherapeut und Seelsorgender gemeinsam die verschiedenen Facetten eines Menschen zusammentragen und die jeweilige Wahrnehmung der Situation darstellen. Der Fokus liegt auf der Frage, was der Patient gesagt, was er gewollt hätte. „Welchen Eindruck haben wir: will er leben oder sterben?“ Dieser Eindruck sei immer unscharf, betonte der Klinikseelsorger. Angehörige würden vorher gefragt, in den Prozess einbezogen. Anschließend werde das in der Regel einvernehmlich getroffene Ergebnis mit ihnen besprochen. „Ich gehe nie davon aus, dass die Entscheidung die volle Wahrheit hat”, gestand Leverenz. „Sie ist nie eindeutig.”

Klare Antworten erbeten
In unserer Gesellschaft, in der das juristische Prinzip und Denken schon lange tief verankert seien, fragten Ärzte zunächst nach Normen, Moralvorstellungen und Gesetzen. Diese gäben vor dem Hintergrund vollkommen unterschiedlicher Bedürfnisse eine klare Linie vor. Mit ihnen könne man klassische Fragestellungen beantworten. Leverenz: „Menschen möchten in existenziellen Krisensituationen eine klare Antwort haben.“
Der Mensch vor Gott: Gottesebendbildlichkeit / gerechtfertigt / Würde
Von Gott angenommen
„Die evangelische Antwort sieht etwas anders aus”, ging Leverenz auf Martin Luther ein. Der Reformator habe sich entgegen dem Wunsch seines Vaters für ein mönchisches Leben entschieden. Seine beiden prägenden Sichtweisen seien erwachsen aus der Seelsorge, die er insbesondere durch einen Mitbruder erfahren habe, und der Bibellektüre. Luther habe für sich entdeckt, dass man vor Gott nicht vollkommen sein müsse. „So wie ich bin, bin ich schon am Ziel.“ Obwohl der Mensch brüchig, schuldhaft, nicht vollkommen sei, werde er von Gott angenommen, gerechtfertigt. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen begründe seine Würde. „Ich kann mein Leben in dieser Freiheit gestalten“, sprach Leverenz davon, dass Luther die Instanz der Gewissensfreiheit entdeckt habe.

Freiheit und Verantwortung
Der Ansatz von Luther, für den das seelsorgerliche Gespräch entscheidend gewesen sei, sei eben nicht eine Norm. „Unsere Verantwortung ist unser Gewissen”, so Leverenz. „Wie aber kommen Freiheit und Verantwortung zusammen?“ Man treffe auch in Krisensituationen im Krankenhaus keine isolierte Entscheidung. „Luther würde sagen: Schaue das im Hinblick auf die Folgen, die Du im Umfeld bewirkst.“

Luthers Antwort
Luthers Antwort auf existenzielle Fragen verleihe uns mehr Spielraum, sei aber komplizierter. Und das mache es uns nicht einfacher. Auch nicht der Schwangeren, die beim Nachdenken über einen möglichen Abbruch in den Konflikt zwischen Schutz des Ungeborenen und Recht auf eigenes Leben gerate. Luther habe den Begriff der Autonomie nie so bemüht wie wir heute, stellte Leverenz fest. Eher in dem Sinne einer geschenkten Freiheit, „die ich vor Gott, vor mir und anderen verantworte”.

Weitere Veranstaltungen der Reihe „Im Mittelpunkt die Seele – Seelsorge aus dem Geist der Reformation” sind hier.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich