Knapp 17 Jahre leitete Pfarrer Marten Marquardt die Melanchthon-Akademie des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region. Ende März geht der 1944 im brandenburgischen Eberswalde geborene Theologe in den vorgezogenen Ruhestand. Mit ihm sprach Engelbert Broich, freier Mitarbeiter der Pressestelle des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region.
Die Beschäftigung mit dem Judentum, der jüdisch-christliche Dialog ziehen sich wie ein roter Faden durch ihr privates und berufliches Leben. Woher rührt dieses Interesse?
Marquardt: Angefangen hat es 1963. Da war ich Student in Berlin. Mein Lehrer Helmut Gollwitzer hat uns vom Beginn unseres Studiums an auf dieses Thema als den Kern jeder verantwortlichen Theologie heute hingewiesen. Im Herbst 1963 wurde ich Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Studiengruppe und habe mich ein halbes Jahr lang mit einer ganzen Studiengruppe auf den dreimonatigen Einsatz 1964 im Kibbuz Dorot in der Negev-Wüste vorbereitet. Wir haben Ivrith, modernes Hebräisch, gelernt und uns gründlich mit der Geschichte Israels, des Judentums und mit unserer deutschen Geschichte befasst. In Israel selbst haben wir gemerkt, dass man in diesem Land nicht bestehen kann, ohne dessen und unsere eigene Vergangenheit zu kennen. Aber ich möchte noch einen zweiten, theoretischen Aspekt nennen. Es ist ein Zitat des deutsch-jüdischen Philosophen Walter Benjamin: „Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.“ Verkürzt heißt das, all das Unerfüllte früherer Leben wird vererbt auf die nächste Generation. Deren Aufgabe lautet, die Dinge aus der Vergangenheit aufzunehmen. Das gilt auch für die Geschichte der Schoah, eine zentrale, aber schier unmögliche und trotzdem doch nicht zu leugnende Aufgabe.
Man könnte annehmen, dass mit Ihrer ersten Pfarrstelle, die Sie 1971 in der hessischen Dorfgemeinde Erda antraten, das jüdisch-christliche Gespräch in den Hintergrund getreten ist.
Marquardt: Nein, das Thema ruhte nie. Die „arme“ Dorfgemeinde musste auch über das Judentum lernen.
Weshalb zog es Sie 1978 als Pfarrer der deutschen Auslandsgemeinden und der deutschen Seemannsmission nach Liverpool und Manchester?
Marquardt: Das ist leicht erklärt. In Liverpool und Manchester besteht nach London die größte jüdische Gemeinde in England. Mit meiner Familie habe ich im jüdischen Viertel von Liverpool gelebt. Meine ersten beiden Kinder haben dort die jüdische King-David-Highschool besucht und hatten einen großen jüdischen Freundeskreis. Ich selbst war Mitglied des jüdischen Erwachsenen-Bildungsvereins.
Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Marquardt: In diese sechs Jahre fällt der größte industrielle und soziale Niedergang in Liverpool. Die Gemeindearbeit war deshalb besonders verknüpft mit Sozialarbeit sowie Flüchtlingsarbeit, Stichwort boat-people. Das bewegendste Erlebnis verbinde ich mit einer Einladung des Direktors der von meinen Kindern besuchten Highschool. Er bat mich, den deutschen evangelischen Pfarrer, anlässlich des höchsten jüdischen Gedenktages, am Jom haSchoah, dem „Tag der Vernichtung“, vor der Schulversammlung zu sprechen.
Nach England waren Sie ab 1984 sieben Jahre Dozent für Evangelische Theologie an der Jugendakademie Radevormwald. Dort arbeiteten Sie vor allem mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern im kirchlichen Dienst, mit Diakoninnen und Diakonen.
Marquardt: Als besondere Schwerpunkte kann ich biblische Theologie, Seelsorge und Konzeptionsentwicklung für Stadtgemeinden nennen. Aber auch hier ging der dicke rote Faden, das jüdisch-christlichen Thema, nicht verloren. Es war für mich die größte Überraschung, dass die Sozialpädagoginnen und – pädagogen ein so großes, anhaltendes Interesse dafür entwickelt und diesen fremden Blick auf die Tradition der Kirche als sehr belebend empfunden haben.
Anfang Juni 1991 traten Sie die Leitung der Melanchthon-Akademie an.
Marquardt: Schon damals war die Akademie durch meinen Vorgänger Dr. Paul Gerhard Aring bekannt als ein Ort für den jüdisch-christlichen Dialog in Köln. Diese Tradition habe ich fortzusetzen und weiter zu entwickeln versucht. Mein Hauptinteresse war die Aufnahme der Themen des Gesprächs zwischen Juden und Christen in alle Bereiche theologischer Arbeit.
Können Sie bitte einige Angebote und Ergebnisse dieser so bestimmten Arbeit nennen? Marquardt: Unverändert bieten wir Sprachkurse für biblisches und modernes Hebräisch an. -Zudem ist das „Jüdische Forum“ Anfang der neunziger Jahren in der Melanchthon-Akademie entstanden, die Keimzelle der später gegründeten Liberalen Jüdischen Gemeinde, der zweiten jüdischen Gemeinde im Nachkriegs-Köln. Wir haben auch bei der Vermittlung einer Behausung für diese Gemeinde eine Art Hebammendienst geleistet. – Über drei Jahre hat die Melanchthon-Akademie gemeinsam mit der Synagogen-Gemeinde Köln und der Karl-Rahner-Akademie in einer abwechselnd an den drei Orten angebotenen Vortragsreihe zentrale Themen des Gesprächs zwischen Juden und Christen veranstaltet.
Unter den Publikationen der Akademie findet sich auch „Köln grüßt Jerusalem“.
Marquardt: 2002 haben wir darin wichtige Aspekte unserer Arbeit im Gespräch zwischen Juden und Christen veröffentlicht. Bis heute dient das Buch auch als Grundlage für Stadtführungen zum Thema.
Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt der Akademie war und ist die Profilierung als Stadtakademie. Was ist darunter zu verstehen?
Marquardt: Stimmt. Wir haben verstärkt versucht, die Themen von Theologie und Kirche mit den Themen der Stadt zu verbinden. So haben wir für uns die theologisch und geistesgeschichtlich orientierte Meditation wichtiger Plätze in Köln eingeführt. Beispielsweise haben wir den Fokus auf die Installation „Maalot“ des israelischen Künstlers Dani Karavan auf dem Heinrich-Böll-Platz gerichtet, und damit einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der hiesigen Stadtgeschichte geleistet.
Ein Aspekt, der Sie nicht erst seit ihrer Akademie-Zeit beschäftigt, ist die theologische Bildung, die Sie als unverzichtbar bezeichnen.
Marquardt: Protestanten sind Menschen, die sich persönlich vor Gott verantworten müssen. Wir stehen direkt vor Gott. Dieses Selbstverständnis setzt voraus, dass ich mich um theologische Bildung bemühe, sonst bin ich in dieser Beziehung verantwortungslos.
Wie steht es denn um die theologische Bildung?
Marquardt: Ich erlebe einen erschreckenden Mangel an theologischer Bildung. Der zeigt sich darin, dass viele Menschen zuviel, ja alles glauben. Das führt dazu, dass man um glauben zu lernen, auch kritisieren, hinterfragen, stören und ggf. sogar zerstören muss. Aberglaube und Leichtgläubigkeit ist unglaublich weit verbreitet. Eine undifferenzierte Leichtgläubigkeit ist der Feind des Glaubens. Auf der Fassade der Uni in Amsterdam stand einst ein Graffito zu lesen: „Wer nicht über Religion nachdenkt, glaubt alles.“ Genau das ist es. Und wo man mit anderen gemeinsam anspruchsvolle, kritische Fragen stellt und ehrlich nach Antworten sucht, erlebt man erstaunlich viele offene Ohren und Herzen.
Zwei weitere Begriffe, die ebenso mit Ihrem Wirken verbunden sind, lauten entziffern und erinnern.
Marquardt: Ein evangelischer Theologe ist zu allererst Schriftgelehrter, alles andere kommt später. Als Schriftgelehrter hat er die biblischen Texte zu entziffern. Hinzu kommt die Notwendigkeit, sie auf das wirkliche Leben zu beziehen. Daher war es mir in allen theologischen Seminaren wichtig, die Texte auf das heutige gesellschaftliche und private Leben zu beziehen. Für mich gilt der Satz von Karl Barth: „Jeder Satz der Theologie ist auch ein politisch wirkender Satz oder er ist überflüssig“.
Und die Erinnerung?
Marquardt: Meine ganze Theologie ist bezogen auf die jüdische Tradition. In ihr spielt Erinnerung eine zentrale Rolle. Aber nicht nur rückwärts gewandt. Vielmehr ist die Vergangenheit auf die Zukunft ausgerichtet, ich frage nach der Vergangenheit um der Zukunft willen. So geht es in der Schöpfungsgeschichte um den Blick auf die Zukunft – wie alles werden soll. Erinnerung ist für mich ein zentraler Ausdruck für biblisch geschulten Glauben.
Kommen wir zu einer historischen Erinnerung: Welche Bedeutung hatte für Sie der Standort der Akademie auf dem ehemaligen Gelände der Kölner Niederlassung des Kartäuserordens?
Marquardt: Eine große. Vor ein paar Jahren haben wir beispielsweise regelmäßig am Montagmorgen in der Kartäuserkirche eine Andacht gehalten, wo bestimmte Orte im Kölner Süden, darunter die Kartause, biblisch und historisch reflektiert wurden. Zudem habe ich die Tradition des Verbandes sehr gerne übernommen, Stillschweigen zu bewahren, so lange die Glocke der Kartäuserkirche spricht. Wir haben also Seminare und Vorträge kurz unterbrochen, um an das Schweigen der Kartäuser zu erinnern. Ich empfinde es als eine wunderbare Spannung, dass dort, wo einst ein Schweigeorden saß, nun redende Protestanten zuhause sind. In Anlehnung an die Geschichte des Ortes haben wir hier auch einen Kräutergarten angelegt, der von unserem Gärtner liebevoll gehegt wird.
Skizzieren Sie bitte kurz die Zukunft der Melanchthon-Akademie.
Marquardt: Ihre Zukunft ist mittelfristig gesichert. Dabei wird das Profil der Einrichtung noch stärker auf den Aspekt einer Stadtakademie hin entwickelt werden. Ein aktuelles Beispiel: Wir haben für den Kirchenverband ein Forum angeregt, in dem sich die Gemeinden mit Vertretern der Stadt über deren jüngst vorgestellten Masterplan austauschen können. Es findet statt am 14. April in der Antoniterkirche.
Und wo sehen Sie sich zukünftig?
Marquardt: Ich bleibe in Pulheim-Brauweiler wohnen. Und ich werde weiterhin Theologie betreiben – ohne die administrativen Pflichten, die eine Akademieleitung mit sich bringt. Natürlich wird unverändert der christlich-jüdische Dialog eine Rolle spielen. Hinzu kommen, wie es momentan aussieht, zwei weitere Themen: Was haben Christen und Muslime miteinander zu tun? Diese Frage bewegt mich, seit ich in Köln bin. Und ich werde darüber nachdenken, wie der jüdisch-christliche und der christlich-islamische Dialog zusammenpassen. Bereits auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2007 in Köln hat die Akademie gemeinsam mit der Evangelischen Kirchengemeinde Köln-Lindenthal mit dem „Abraham-Zentrum“ versucht, beide in Verbindung zu setzen.
Und das zweite wichtige Thema?
Marquardt: Christen und Muslime sind im biblischen Sinn eigentlich Heiden. Auch ich muss endlich lernen, dass ich als Christ im biblischen Sinn ein „Heide“ bin. Ich möchte gerne eine „Theologie des Heidentums“ erarbeiten, die uns heraus führt aus der negativen Besetzung des Begriffs, heraus führt aus der belasteten Redewendung von den Heiden als den nur Gottlosen. Meine erste Arbeit im Ruhestand wird aber ein Vortrag in Wittenberg sein, wo man mich eingeladen hat, zur Entwicklung des Themas „Judensau“ und seiner Kölner Besonderheit zu sprechen.
Ein Beispiel dieser antijüdischen Propaganda in der christlichen Kunst des Mittelalters findet sich auch im Chorgestühl des Kölner Doms. 2002 war das Thema Gegenstand einer Tagung in der Melanchthon-Akademie. Was haben die Versuche gebracht, zumindest einen erläuternden Kommentar zur „Judensau“ im Dom anzubringen?
Marquardt: Nichts. Domkapitel und Dombaumeisterin haben sich in dieser Angelegenheit nach wie vor nicht bewegt.
Sie haben über manchen „versteckten“ wie bekannten Ort in Köln gearbeitet. Sie haben diese Orte unterschiedlichen, neuen Betrachtungen unterworfen und dabei in Publikationen wie Führungen vielfach überraschende Bezüge hergestellt. Verraten Sie uns abschließend Ihren Lieblingsort in dieser Stadt?
Marquardt: Die Krypta in St. Maria im Kapitol. Als ich 1991 nach Köln kam, bin ich wie betrunken durch die romanischen Kirchen „getorkelt“ beim Versuch sie zu verstehen. Der Abstieg in die Krypta von St. Maria im Kapitol war ein ganz besonderes Erlebnis. Die Begegnung mit diesem Raum hat mich wirklich überrascht. Und dieser Raum hat sich eingeprägt. Ich hatte das Gefühl, ganz woanders zu sein und doch behaust. Noch heute erlebe ich diesen Ort als ein Stück Fremde und zugleich Heimat in dieser Welt. Dort fühle ich mich sozusagen in der Fremde zuhause.
Foto(s): Broich