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Gerade eröffnet: das erste Erzähl- und Begegnungscafé für Kölner NS-Verfolgte

Die Veranstaltungsreihe »Befreiung und Neubeginn. 60 Jahre nach Kriegsende« des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, der Kölnischen Gesellschaft für Christlich- Jüdische Zusammenarbeit und des Verein EL-DE-Haus wurde am 8. März im NS-Dokumentationszentrum, Appellhofplatz 23-25, eröffnet. Dazu gehört auch das vom Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte e.V. und der von ihm initiierte Runde Tisch »Ein Ort der Zuflucht für NS-Verfolgte«  initiierte erste Erzähl- und Begegnungscafé für NS-Verfolgte. Alle zwei Wochen treffen sich hier die Überlebenden zu Kaffee und Kuchen, alle acht Wochen haben sie die Möglichkeit, vor und mit einem interessierten Publikum über ihre Erfahrungen zu sprechen. Der Evangelische Stadtkirchenverband Köln hat mit einer Anschubfinanzierung von 3.000 Euro dieses einzigartige Projekt unterstützt. Zur Eröffnung am 10. März sprach auch Stadtsuperintendent Ernst Fey  ein Grußwort:

Die Zeit würde mir zu kurz, wenn ich erzählen sollte von…“ (Heb. 11, 32). Das ist eine uralte biblische Erfahrung, dass die Zeit zum Erzählen immer zu kurz ist. Und wenn ich ein Fünf-Minuten-Grußwort zur Eröffnung dieses Erzähl-Cafés sprechen soll, spüre ich das sofort wieder: Die Zeit ist zu kurz zum Erzählen. Damit müssen wir leben.

Aber „als ich es wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine durch mein tägliches Klagen…, dass mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürre wird“ (Ps 32, 3.4). Das ist die andere biblische Wahrheit. Wir sind existenziell abhängig vom Erzählen. Wir verdorren innerlich, wenn wir nicht erzählen können, wenn niemand zuhören kann.

Sigmund Freud verdanken wir die Erkenntnis, dass das menschliche Erzählen ein Heilmittel, geradezu ein Lebensmittel für uns alle ist. In unserer Gesellschaft fehlt es Gott sei Dank kaum noch an Lebensmitteln, auch nicht an Kaffee und Kuchen. Aber dieses andere Lebensmittel, das menschliche Erzählen, das ist sehr knapp geworden bei uns.

Und nun soll es hier um Erzählungen gehen aus einer Welt und aus einer Wirklichkeit,
· die die meisten von uns nicht mehr kennen,
· die wir nicht teilen, weil wir zu jung sind,
· weil wir nicht dabei gewesen sind,
· weil wir auf der anderen Seite gewesen sind.

Die Erzählungen, die wir hier hören werden, sind für die meisten von uns nur noch Mitteilungen, deren Erfahrungsschatz wir selber aber nicht teilen können. Zwischen Teilen und Mitteilen verläuft eine feine, aber tiefe Trennlinie:
Ihr und Wir.

Und damit sind wir bei der anderen Seite des Erzählens, beim Hören. Dieses Erzähl-Café muss auch ein Hör-Café werden, wenn es gelingen soll. Und dieses Hören wird unsere Aufgabe werden. Dazu möchte ich noch ein paar Aspekte nennen:
· Ich wünsche mir Hörende, die nicht hierher kommen, weil sie etwas Objektives oder Lehrreiches über die Vergangenheit lernen wollen. Dazu haben wir unzählig viele gute Dokumentationen in Schrift, Ton und Bild.
· Ich wünsche diesem Erzähl-Café Hörende, die kommen, um etwas ganz Subjektives erfahren zu können, die aus Liebe zu und aus Interesse an den Menschen kommen, die hier den Mund und das Herz auftun werden.

Nachrichten aus der Vergangenheit, Sachberichte, wie es damals eigentlich wirklich war, wird man hier kaum erfahren; Kritik, Vergleich und Richtigstellungen wird es hier hoffentlich kaum geben. Hier werden wir hören lernen, wie Menschen mit ihren Erinnerungen heute unter uns leben, wie sie sich selbst verstehen, wie sie die Welt verstehen oder auch nicht verstehen.

Das mag auch einen historischen Sinn haben. Das mag auch in irgend einer Weise lehrreich für die nachfolgenden Generationen sein. Aber ich möchte davor warnen, diese Seite des Erzählens in den Vordergrund zu stellen; ich möchte vor der drohenden Instrumentalisierung des Erzählens und der Erzählenden warnen. Denn

· es geht um die Menschen, nicht um die Theorien,
· es geht um Praxis und Erfahrung, nicht um Lehre und Berechnung,
· es geht ums Leben, nicht um Bücher,
· es geht ums Überleben, nicht ums Überlesen.

Ich wünsche Ihnen also Hörende, die zu aller erst ein Interesse an den Personen mitbringen und die erst in zweiter Linie nach den Sachen und den Fakten fragen.

Kürzlich hat in Norwegen das berühmte Bild von Edvard Munch noch einmal von sich Reden gemacht: Der Schrei. Das erschreckende und eindrucksvolle Bild eines schreienden Gesichts.

Ich möchte für die Zukunft des Erzähl-Cafés die Gegenvision eines neuen, eines positiven Bildes zu Munchs Schrei entwickeln: Das Ohr: Ein ganz auf Hören eingestelltes menschliches Gesicht.

Das menschliche Ohr ist das biblische „Zentralorgan“. Hören können ist in unserer Bibel die größte Kunst und das höchste Ziel. – Darum ist es für die evangelischen Gemeinden in Köln selbstverständlich, dass wir die Eröffnung dieses besonderen Erzähl-Cafés mit besonderem Interesse begleiten und uns an der Anschubfinanzierung in diesem Jahr trotz allem beteiligen.

Wir singen in unseren Gottesdiensten oft das Lied des evangelischen Dichters Jochen Klepper: „Er weckt mir alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr“. Ich wünsche Ihnen und uns, dass diese Melodie über den Tischen des Erzähl-Cafés niemals verklingt.!

Tipp
Das gesamte Programm von »Befreiung und Neubeginn. 60 Jahre nach Kriegsende« ist als pdf-Datei hier einzusehen.

Text: NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Foto(s): NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln