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Dr. Michael Rado, Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln.

Gedenkfeier mit Schülern an der Kindergedenkstätte Löwenbrunnen

„Es ist wirklich wichtig und gut, dass wir heute hier wieder zusammen sind und den Faden des Erinnerns gemeinsam in der Hand halten“, begrüßte Dr. Rainer Lemaire an der Kindergedenkstätte Löwenbrunnen zur Gedenkstunde. Erinnert wurde an die Pogrome des 9./10. November 1938 gegen jüdische Menschen sowie an die deportierten und ermordeten beziehungsweise geretteten jüdischen Kinder und Jugendlichen aus Köln und Umgebung. Zu den Teilnehmenden zählten auch Jugendliche der Erzbischöflichen Liebfrauenschule in Köln-Lindenthal, des Montessori-Gymnasiums in Köln-Nippes und Schaurte-Gymnasiums in Köln-Deutz. Wie gewohnt waren Beiträge von Schüler*innen in das Programm eingebettet. Gerade in Zeiten eines in der Gesellschaft erneut Raum greifenden Antisemitismus und Rassismus zeigten sich die Mitglieder des veranstaltenden Arbeitskreises „Lern- und Gedenkort Jawne“ froh über „Eure und Ihre heutige Beteiligung“, sagte Lemaire.

Zentrum jüdischen Lebens und Lernens

Mit der von Dieter und Irene Corbach initiierten Gedenkstätte auf dem Erich-Klibansky-Platz an der Helenenstraße wird namentlich der über 1.100 deportierten und ermordeten jüdischen Kinder und Jugendlichen aus Köln und Umgebung gedacht. Der achteckige Brunnen steht in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Areal des einstigen jüdischen Reform-Realgymnasium Jawne und der Synagoge der orthodoxen Gemeinde in Köln. Dort befand sich ein Zentrum jüdischen Lebens und Lernens.

„Man wollte das Vermögen der Juden haben.“

Dr. Michael Rado, Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln, dankte den Anwesenden für ihre „nicht selbstverständliche“ Teilnahme. Er zitierte unter anderem das vom NS-Regime erlassene Verbot für Juden, Kraftfahrzeuge zu besitzen oder zu fahren. „Stellen Sie sich mal vor, Ihnen wird gesagt, Sie dürfen nicht mehr fahren, denn Sie könnten ja deutsches Leben gefährden – einfach nur weil Sie sind, wie Sie sind.“ Die Juden seien wie Ratten und Ungeziefer eingestuft worden. Man habe sie umgebracht, weil sie Juden gewesen seien. Aber natürlich habe es einen weiteren Grund gegeben. „Man wollte das Vermögen der Juden haben.“

Er wünschte sich, dass die Schüler*innen über ihre heutige Anwesenheit und ihre aktuelle Beschäftigung mit dem Thema hinaus versuchten, in eine Art Familienforschung hineinzugehen; zu klären, wie so etwas habe passieren können. „Und wenn Sie es nicht verstehen – ich verstehe es auch nicht“, stellte Rado fest. Aber eines müssten sie wissen, beschwor Rado die Jugendlichen: „Halten Sie an dieser Demokratie fest.“ Er appellierte aufzupassen und die Demokratie zu bewahren. „Dafür sind ie heute gekommen, um das zu verstehen. Das ist mir ein Anliegen, das liegt mir am Herzen, bitte, bitte tun Sie das.“ Anschließend beeindruckte Kantor Mordechai Tauber mit seinen Vorträgen eines Psalms und des Gebets El Male Rachamim für die Opfer der Shoa.

In seinem Grußwort im Namen der Stadt Köln dankte Bürgermeister Andreas Wolter (Grüne) Rado für seinen Vortrag. Er spreche allen Demokraten aus dem Herzen. Aufklärung, Wissen um das Geschehene, sei die beste Art, um gegen antisemitisches, rechtes und rassistisches Gedankengut vorzugehen. Nicht nur in unserem Land versuchten Radikale Minderheiten abzuwerten. Regierungen wie in Ungarn verfolgten auf Kosten von Minderheiten politische Ziele. Große Anerkennung zollte Wolter dem Arbeitskreis „Lern- und Gedenkort Jawne“. Er bewahre die Erinnerung an die jüdischen Kinder und Jugendlichen, verankere dauerhaft das Gedenken. Das wichtigste sei, schloss der Bürgermeister, in Familien, Schulen und an anderen Stellen über das Geschehene zu reden. Nur so gelinge eine Aufarbeitung. „Das ist unser aller Verpflichtung.“

Schüler*innen des Montessori-Gymnasiums in Köln-Nippes hatten vor der Veranstaltung im Galerieraum des Lern- und Gedenkortes einen Workshop besucht. Dabei recherchierten sie in mehreren Gruppen zu Biographien insbesondere mit Kindertransporten nach England geretteter jüdischer Mädchen und Jungen. Ihre Ergebnisse präsentierten sie graphisch unterstützt in der Gedenkstunde. Sie berichteten von Lore Robinson und Henny Franks. Beide leben heute fast hundertjährig in London. Der 13-jährige Fritz Penas habe nach seiner Ankunft im Januar 1939 in England seinen Eltern Briefe geschrieben. Ihnen habe er anfangs von seinen angenehmen Eindrücken und Erlebnissen berichtet. Aber bald schon sei zu lesen von seiner starken Sehnsucht nach Mutter und Vater. Beide sollte er nie wiedersehen. Zitiert wurde außerdem aus dem Tagebuch von Hanna Halamisch. Sie konnte 1933 mit ihrer Familie nach Palästina auswandern.

„Eie Explosion der nackten Gewalt“

Von Henry Gruen (Heinz Grünebaum) wurde der Ausschnitt eines Radio-Interviews eingespielt. Darin nennt der 2013 verstorbene Sohn eines Kantors und Lehrers die Ereignisse während des Pogroms in der Köln-Ehrenfelder Körnerstraße, wo eine Synagoge und das Wohnhaus der Familie stand, „die Explosion der nackten Gewalt“. Er habe Uniformierten die Synagoge geöffnet, wo sie mit Äxten alles zertrümmert hätten. „Das entzog einem den Boden“, sprach Gruen von einem zerreißenden Erlebnis und schockartigen Zustand. Eine andere Gruppe der NS-Schergen habe im Haus das Mobiliar auf die Straße geworfen. Auf Bitten seines Vaters sei er zu Freunden geradelt. Im Gepäck ein Schlafanzug und ein Klavierbüchlein von Bach, welches er als „das“ Erinnerungsstück dieser Zeit bezeichnete. Aus der vor dem Haus versammelten Menschenmenge habe er keine hörbare Reaktion vernommen. „Wir wollen die Namen der Schüler*innen lebendig halten“, betonte Lemaire eines der maßgeblichen Ziele des Lern- und Gedenkortes.

Nele, Alex und Til von der Liebfrauenschule trugen eindringlich und sehr reflektiert vor, dass es an jedem einzelnen liege, gegen antisemitische und menschenverachtende Äußerungen vorzugehen. Das erfordere Eigeninitiative, Solidarität, Toleranz und Mut. Die drei Gymnasiast*innen, die 2022 ihr Abitur ablegen, hoben hervor, dass Antisemitismus und judenfeindliches Gedankengut uns auch heute noch, „in unserer Generation“ begegne. Beispielsweise in Hakenkreuz-Kritzeleien auf Schulmobiliar, in Hass- und Hetze-Sprüchen in Unterführungen, an Litfaßsäulen oder Mauern. „Und die meisten von uns gehen einfach weiter“, so Til. Leider seien Wände und Tische nicht die einzigen Medien, die für unbegründete Hassmitteilungen genutzt würden. Die Urheber hätten auch Twitter, Instagram, Tik Tok und Co für sich entdeckt. Diesem Risiko seien wir alle ausgesetzt. Insbesondere aber uninformierte Kinder und Jugendliche. Es dauere nur wenige Sekunden, um auf antisemitische Posts und Hashtags zu stoßen. „Vor allem zu Themen wie dem Nahost-Konflikt oder dem Holocaust werden Relativierungen  und Leugnungen des Völkermordes an Menschen jüdischen Glaubens verbreitet.“

Pflicht, Menschen aufzuklären und zu informieren

Rasch und ungewollt könne die junge Generation Verbreiter von Antisemitismus werden. Viele wüssten nicht, dass sie sich in Blasen begeben, in welchen etwa israelfeindliche Hashtags kursierten. „Durch Reposts bieten sie dabei Menschen eine Stimme, die häufig antisemitischen und menschenverachtenden Hass verbreiten wollen.“ Die sozialen Medien ermöglichten eine noch schnellere Verbreitung dieses Hasses. Das Trio kritisierte stark, dass die Plattformen nicht konsequent genug gegen solche menschenverachtenden Inhalte vorgehen. Sie übernähmen keine Verantwortung, „lassen junge Menschen ins offene Messer laufen“. Deshalb sei es unsere Pflicht, Menschen aufzuklären und zu informieren. Nele, Alex und Til nannten Bildung als einen der Schlüssel, um Antisemitismus und Rechtextremismus zu bekämpfen. „Wir sehen auch unsere Pflicht und die unserer Generation darin, Verantwortung zu übernehmen und unsere Gesellschaft durch Werte der Vernunft und Nächstenliebe zu prägen.“

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich