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Forum Paul Gerhardt Kirche: Werkstattgespräch mit Gunter Demnig und Uta Franke zum Erinnerungs-Projekt „Stolpersteine“

„Spuren suchen/Spuren legen“ lautete die Ausstellung, die im Mai in der evangelischen Paul-Gerhard-Kirche in Köln-Lindenthal zu sehen war. Sie zeigte in Form und Inhalt unterschiedliche Beiträge von Schülerinnen und Schülern des 11. bis 13. Jahrgangs des Kölner Apostelgymnasiums, Elisabeth-von-Thüringen-Gymnasiums und Schiller-Gymnasiums sowie des Pulheimer Geschwister-Scholl-Gymnasiums. Innerhalb von Grund- und Leistungskursen Kunst realisiert, ging das Projekt zurück auf eine Kooperation des Fördervereins „Forum Paul-Gerhardt-Kirche“ mit den betreffenden Fachlehrern. In den Vorjahren hatten Gymnasiasten bereits ihre Vorstellungen zu den Themen „Vergänglichkeit“ und „Wirklichkeit“ in der Paul-Gerhardt-Kirche präsentiert. 2007 werden sie sich mit dem Thema („Lebendig und kräftig und schärfer“) des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Köln beschäftigen. In den Rahmen der Vernissage hatte Initiator Walter Ludwigs, Vorsitzender des Forums Paul-Gerhardt-Kirche, abschließend einen besonderen Programmpunkt gestellt: Ein Werkstattgespräch mit dem Kölner Künstler Gunter Demnig. Insbesondere „in Assoziation mit seinem Tun“, formulierte der moderierende Ludwigs, sei die Idee zum Ausstellungsthema entstanden.

Im öffentlichen Raum macht er auf ihr Schicksal aufmerksam
Die Arbeit des gebürtigen Berliners Demnig, Jahrgang 1947, ist seit 1993 von dem Projekt „Stolpersteine“ geprägt. Damit kämpft er an gegen das Vergessen nationalsozialistischer Verbrechen. Damit erinnert er an Juden, Sinti, Roma und politisch Verfolgte, an Homosexuelle, Euthanasieopfer, Zeugen Jehovas und andere Menschen, die unter dem NS-Regime entrechtet, vertrieben und ermordet wurden. Diesen Menschen will Demnig dort ihren Namen zurückgeben, wo sie gewohnt und gelebt haben. Im öffentlichen Raum macht er auf ihr Schicksal aufmerksam. „Es kann nur eine symbolische Arbeit bleiben“, sagte Demnig in Anbetracht der hohen Opferzahl. Trotzdem sei das Projekt unverzichtbar. Denn es dezentralisiere das Gedenken, sprach er von seinem großen Unbehagen gegenüber zentralen Gedenkstätten. „Diese Mahnmale bleiben häufig anonym, sind oft weit weg.“ Stolpersteine konfrontieren dagegen im Alltag, unmittelbar. Sie bringen die Erinnerung mitten ins Leben, legen sie im wahren Wortsinn vor unsere Füße und vor die Haustür.

Wer die Inschrift lesen will muss seinen Kopf neigen
Bei den Stolpersteinen handelt es sich um kleine Betonblöcke (10x10x10 cm), die oben mit einer Messingplatte versehen sind. In diese stanzt Demnig die Opfernamen. Außerdem, wenn bekannt, das Datum/die Jahreszahl der Geburt, Deportation und Ermordung sowie den Todesort der Personen. Vor deren ehemaligen Adressen werden die Steine plan in den Bürgersteig verlegt. Wer die Inschrift lesen will, muss also, und das ist von Demnig beabsichtigt, seinen Kopf neigen! Leitete Demnig die Beschriftung lange Zeit mit der Angabe „hier wohnte“ ein, verfährt er inzwischen flexibler. Abhängig davon, ob es sich um das ehemalige Wohnhaus oder die Arbeitsstätte von NS-Opfern handelt, heißt es nun auch „hier arbeitete“, „hier lebte“, „hier praktizierte“ oder „hier lehrte“. Herstellung und Verlegung der Stolpersteine finanzieren sich über Patenschaften. Ein Stein schlägt mit 95 Euro zu Buche. „Die Konzeption war von vorne herein klar“, erläuterte Demnig. „Die Kommunen sind klamm. Daher kann das Ganze nur durch Paten und Spenden realisiert werden. Es ist ganz wesentlich, dass es eben kein Verwaltungsprojekt ist, sondern von unten ausgeht, ein Projekt, an dem Bürger sich beteiligen.“ Von diesem Prinzip lebe das Projekt. „Mit der Übernahme einer Patenschaft ist der Pate an dem gesamten Projekt beteiligt.“ An einem dezentralen Denkmal, das sich durch das ganze Land zieht.

Ermutigung durch Pfarrer Kurt-Werner Pick
Anfangs schien das Thema übermächtig, so Demnig, der Anspruch zu hoch. Kurt Pick, damals Pfarrer an der evangelischen Antoniterkirche, habe ihn dann ermutigt, „einfach mal klein anzufangen“. Daraus sind bis heute 8000 Steine in Deutschland geworden. Mit Stendal ist gerade der 159. Ort hinzugekommen. Und das europäische Ausland hat er auch schon in den Blick genommen.

Ostdeutschland zieht nach: immer mehr Patenschaften
Mit auf dem Podium saß Uta Franke. 1955 in Leipzig geboren, als DDR-Regimekritikerin 1980 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu einer 28-monatigen Haftstrafe verurteilt und durch den bundesdeutschen „Freikauf politischer Häftlinge“ 1981 nach Köln übergesiedelt, ist sie seit Jahren freiberuflich mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur befasst. Seit 2002 begleitet sie das „Stolpersteine“-Projekt organisatorisch und dokumentarisch, koordiniert es seit 2003 bundesweit. Franke stellte fest, dass das Interesse bundesweit unaufhörlich steige. „Aktuell stehen die Termine bis Juli 2007 fest. Fast täglich kommen Anfragen. Aber Gunter ist allein unterwegs, manchmal an einem Tag in zwei Orten. Wenn er mal vier Tage in Köln ist, ist das schon viel. Das Projekt nimmt ihn total in Anspruch. Aber es ist ein äußerst sinnvolles Projekt.“ Auffallend sei, so Franke, dass Ostdeutschland seit 2002/2003 kräftig nachziehe und dort immer mehr Orte und Patenschaften hinzukämen. Gleichwohl bilde in den dortigen Bundesländern der Rechtsradikalismus ein großes Problem. „Bei Verlegungen oder Veranstaltungen zum Projekt ist fast immer Polizei dabei.“

Wo gegen die Steine oppuniert wird, bildet sich eine Öffentlichkeit
„Ich versuche, für die Ewigkeit zu arbeiten“, betonte Demnig. „Die Steine, die zerstört werden, werden ersetzt.“ Tatsächlich seien von derzeit 8000 Steinen aber nur rund 27 durch Farb- und Teerattacken vorsätzlich beschädigt und acht, in Halle/Saale, herausgerissen worden. „Wo so etwas geschieht, mache ich neue.“ Was Demnig ermutigt, ist die immer wieder erfahrene Unterstützung von einzelnen oder Gruppen. Wo gegen die Steine verbal oder tatkräftig opponiert werde, bilde sich stets eine Öffentlichkeit. „In Halle hat eine Initiative ein Benefiz-Konzert veranstaltet. Dabei kam nicht nur Geld für acht neue Steine, sondern für 17 weitere zusammen.“

Eine gründliche Recherche ist unverzichtbar
Dem Beschriften und Verlegen der Steine geht immer eine gründliche Recherche über die Personendaten voraus. Aufgrund des gewachsenen Interesses kann Demnig diese notwendigen Ermittlungs- und Absicherungsarbeit aber nur noch in geringem Umfang selbst leisten. Diese obliegt seit einiger Zeit den Paten. „Ich finde es gut und wichtig, dass sich die Menschen schon in der Vorbereitung damit beschäftigen. Dann passieren Dinge vor Ort“, erzählte der Künstler von einem Fall, in dem sich erst im Gespräch mit Anwohnern herausgestellt habe, dass Steine falsch beschriftet und zudem vor „falsche“ Häuser gelegt worden waren. „Wir geben den Paten aber Hilfestellung, sagen, was zu tun ist“, verweist Franke etwa auf die unerlässliche behördliche Genehmigung. „Die Steine liegen ja im öffentlichen Raum.“

„Verlegen Sie den Stein doch um die Ecke“
Die amtliche Bewilligung habe den Vorteil, dass niemand der angrenzenden Grundstücks- und Hauseigentümer gegen das Denkmal im Boden vorgehen könne. „Es gibt so viele unterschiedliche Reaktionen auf die Verlegung der Stolpersteine“, sagte Demnig. „Toll, sagen die einen, dass das bei uns passiert. Da ist beispielsweise der Hausbesitzer, der vor jedes seiner 20 Häuser Steine verlegt haben wollte. Andere lehnen sie grundsätzlich ab. Dann gibt es die, die fragen: Was soll das jetzt nach 60 Jahren. Ich antworte dann: Aber vor 30 Jahren hätte ich sie verlegen dürfen?!“ Regelmäßig würden Bitten vorgetragen wie etwa: „Verlegen Sie den Stein doch ein paar Meter weiter oder dort um die Ecke. Ich sage dann: Aber die Person hat hier gewohnt. Sie hat den Eingang genutzt, den Sie gerade benutzen. Manche wollen wissen, was es mit den Steinen und Schicksalen auf sich hat. Andere wollen gar nichts wissen.“ Letzteres muss wohl auch für leitende Verwaltungsmitarbeitende von Kommunen angenommen werden. So berichtete Demnig von ernüchternden bürokratischen Hemmnissen nach Probeverlegungen 1993 in Köln und zunächst illegalen Verlegungen 1997 in Berlin-Kreuzberg. „In Kreuzberg und anderen Bezirken in Berlin sorgten aber diverse Unterstützer und letztlich die Bezirksvertreter dafür, dass sich das Projekt in einer Art Schneeballsystem legal ausbreiten konnte.“

Alles lief über private Sponsoren
In Köln habe ihn 1996 Stadtmuseums-Direktor Werner Schäfke ermutigend in den Hintern getreten: „´Jetzt bist du schon so weit gekommen, hast schon so viel gemacht, du kannst nicht aufgeben´“, erinnerte Demnig. Zudem hätten ihn immer wieder zahlreiche in Israel, Groß-Britannien, Neuseeland, den USA und anderswo lebende Angehörige und Freunde von Opfern der Naziverbrechen um eine Fortsetzung des Projekts gebeten: „Sie möchten diese Erinnerung haben. Gerade weil es keine Grabsteine für ihre Verwandten und Freunde gibt.“ Welch immense Bedeutung die Stolpersteine für Holocaust-Überlebende und Nachfahren von NS-Opfern haben können, verdeutliche der Bildhauer mit dem Zitat eines nach England emigrierten Juden: „Dieser Stein ist so etwas wie ein Schlussstein. Ich kann beruhigt nach Hause fahren. Und auch beruhigt wieder nach Deutschland kommen.“
Also trat Demnig in Köln den Weg durch verschiedene Gremien und Ämter an. Schließlich stimmte der Stadtrat im April 2000 bei einer Gegenstimme des REP-Ratsherrn fast geschlossen zu. Zunächst wurden in Köln 600 Steine bewilligt. Daraus sind bis heute 1350 geworden. „Ich habe damals erst richtig angefangen. Alles lief über private Sponsoren“, freute sich Demnig über die bis heute unveränderte Rückendeckung seitens der Stadt sowie das wachsende Interesse in der Bevölkerung. Übrigens: Nach dem Verlegen gehen die Steine als Schenkung an die jeweilige Kommune.

In München bestehen noch Schwierigkeiten
„Allerdings verstehe niemand, warum es ausgerechnet in München nicht klappt“, meinte Demnig. Als ein Argument gegen die Verlegung werde dort angeführt, dass „die Glatzen mit ihren Springerstiefeln auf den Steinen rumtrampeln könnten“. Er habe anfangs auch Bedenken gehabt, dass die in den Bürgersteig eingelassenen Namen zwangsläufig mit Füßen „getreten“ würden. Mitglieder der Kölner Synagogen-Gemeinde hätten ihm aber versichert: In dieser Hinsicht gebe es kein Problem. Die Stolpersteine seien Gedenksteine, keine Grabsteine. „In München greift uns eine rührige Initiative unter die Arme. Rund 300 Patenschaften sind bereits angemeldet, schon 80 Messingplatten geschlagen“, schilderte Franke. Sie empfinde die Situation dort als politischen Skandal. Gerade weil in München auch keine Steine für politische Opfer zugelassen seien. Aber durch im Ausland ansässige Angehörige von Holocaust-Opfern wachse der Druck auf die Verantwortlichen.

Viel Zustimmung und großes Schüler-Interesse
„Es kommt unheimlich viel zurück“, berichtete Demnig von Gesprächen vor Ort, von Zustimmung und Unterstützung. „Es ist unheimlich schön und für mich eine ganz wichtige Sache, auch mit Überlebenden zusammenzutreffen. Sie sagen: Wir möchten deine Steine. Solche Begegnungen geben enorm viel Kraft, meine Arbeit fortzuführen.“ Besondere Freude empfindet Demnig ebenso über das große Interesse von Schülern an seinem Projekt. „Von Anfang an wollte ich es auch in Schulen tragen. Aber viele Lehrer haben gewarnt, dass das Thema ihren Schülern aus den Ohren herauskomme. Sie wurden eines besseren belehrt.“ Demnig hat in diversen Projektwochen erstaunt festgestellt, was die Stolpersteine bei den Heranwachsenden auslösen können. „Sie recherchieren etwa über die Geschichte eines Hauses, das Schicksal einer Familie. Sie sprechen mit Zeitzeugen, tun alte Fotografien auf und liefern umfangreiche Forschungsarbeiten. Das ist handfester Geschichtsunterricht auf eigene Faust.“ Und noch mehr: „Die Schüler projizieren dieses Projekt auf die Gegenwart, etwa auf das aktuelle Thema Ausländerfeindlichkeit.“

Stolpersteine in ganz Europa
Demnig hält das Projekt unverändert für wichtig: „Es ist ein Denkmal von unten.“ Ein Denkmal, dass auch jenseits der Grenzen fortgeführt wird. Der Gang nach Europa gibt Demnig und Franke eine zusätzliche Perspektive. „In Österreich liegen schon zwei Steine für Zeugen Jehovas“, erläuterte Demnig. In diesem Jahr werden in Österreich weitere Steine verlegt. Geplant sind in Kürze ebenso Aktionen in Kopenhagen, Amsterdam, s´Hertogenbosch. „Dort hat man Interesse geäußert.“ Insgesamt sei das Ausland aber noch zögerlich. „Frankreich will es nicht so genau wissen“, berichtete Demnig etwa von der ablehnenden Haltung einer Arrondissement-Bürgermeisterin in Paris. „Aber es ist eine ganz wichtige Sache, hier wie dort. Und trotz der Probleme – ich bleibe dran“, versprach er. „Irgendwann liegen die Steine.“

Tipps: Stolpersteine im Internet
Günter Demnigs eigene Internetseite bietet eine Chronik seines Projekts, beschreibt die Technik, sammelt aktuelle Meldungen und Pressetexte und vieles mehr  – nachzulesen hier.
Das Kölner NS-Dokumentationszentrum stellt im Internet die größte Datenbank zum Kunstprojekt „Stolpersteine“ zur Verfügung. Auf der Seite www.nsdok.de stehen Daten und Fotos zu jedem der 1.400 Opfer des Nationalsozialismus‘ , an die derzeit durch einen Stolperstein erinnert wird.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich