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Fast vergessene Opfer und eine zwiespältige Biographie: Klaus Schmidt porträtiert den Kölner Waisenhausdirektor und NS-„Euthanasie“-Beauftragten Friedrich Tillmann

Soziale wie christliche Fragen, gesellschaftliche Entwicklungen, (regionale) Kirchengeschichte, die Geschichte von Menschen und deren Beweggründe – besonders diese Themenfelder sind es, mit denen sich der Kölner evangelische Pfarrer i.R. und Historiker Klaus Schmidt (Jahrgang 1935) intensiv beschäftigt. Seine Publikationsliste umfasst unter anderem historische und politische Biographien. In „Glaube, Macht und Freiheitskämpfe“ (Köln 2006) widmet er sich der 500-jährigen Geschichte der Protestanten im Rheinland. Mit Günther van Norden gab er den Titel heraus „Sie schwammen gegen den Strom. Widersetzlichkeit und Verfolgung rheinischer Protestanten im ´Dritte Reich´“ (Köln 2006). 2006 wurde Schmidt für sein regionalgeschichtliches Engagement mit dem „Rheinlandtaler“ ausgezeichnet.


Warum?
Im vorliegenden Band, der jüngsten Publikation von Schmidt, portraitiert er Friedrich Tillmann. Es ist der äußerst schwierige Versuch, einem „sozial engagierten und christlich geprägten“ Menschen, der als Büroleiter an der NS-„Euthanasie“-Aktion „T4“ mitwirkte, gerecht werden zu wollen. Wie konnte Tillmann diesen Weg gehen, fragt Schmidt nicht nur einleitend: „Von der städtischen Fürsorge für Waisenkinder zur wenn auch nur kurzzeitigen Mithilfe bei NS-Krankentötungen – und wieder zurück in soziale Arbeit?“ Helfen könne auf der Suche nach einer Antwort, so Schmidt, „eine Analyse von Tillmanns Worten und Taten im Kontext der Zeit, in der er lebte“. Aber so vieles Schmidt über das Leben und Wirken des Portraitierten auch zusammenträgt, verbindet und auslegt, die „eine“ Antwort auf das Weshalb muss auch er schuldig bleiben.

Jüdische Kinder vor dem Zugriff der Gestapo geschützt
1903 in Mülheim am Rhein (1914 nach Köln eingemeindet) in ein streng katholisches Elternhaus hinein geboren, beginnt Tillmann nach der Schule eine kaufmännische Lehre. Aktiv in der Bündischen Jugend, wird er 1923 Mitglied der NSDAP, nach deren Verbot „Gauführer“ der vom Freikorps-Führer Gerhard Roßbach gegründeten „Schill-Jugend“. Mit der ebenfalls von Roßbach initiierten, „völkisch-national gefärbten“ Laienspielgruppe „Ekkehard-Spielschar“ zieht er durch Deutschland. 1931 bis 1933 belegt er als Gasthörer Veranstaltungen an der Kölner Uni, widmet sich „verstärkt der Jugendarbeit“, übernimmt „neben seiner eigenen Jugendgruppe (…) auch die Vertretung des ´Bündischen Ringes´, des Zusammenschlusses der Kölner Gruppen der Jugendbewegung bei der Stadtverwaltung“. Gleichzeitig ist er „Sachbearbeiter für alle Fragen der Jugendfürsorge seines Jugendbundes“. Nach der „Machtergreifung“ der Nazis erhält er bei der Stadt Köln eine Anstellung als Aushilfe im Bereich der Jugendpflege, was seine erneute NSDAP-Mitgliedschaft voraussetzt. November 1933 wird er zum Städtischen Direktor der Wohlfahrtswaisenpflege ernannt. Wohlgeachtet versieht seine Arbeit, wie Aussagen und Briefe von Wegbegleitenden sowie eidesstattliche Erklärungen im Rahmen seines „Entnazifizierungsverfahrens“ dokumentieren. In diesem Amt zuständig für alle städtischen und einige private Heime habe Tillmann jüdische Kinder vor dem Zugriff der Gestapo geschützt. Er habe im Krieg „durch die frühzeitige Verlegung der meisten (Kölner) Kinderheime in geeignete und leer stehende Klöster und den Abschluss großzügiger Mietverträge (…) den Klöstern geholfen und deren Beschlagnahmung und Auflösung durch die Gestapo verhindert“.

Gleichzeitig „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von kranken und behinderten Menschen
Umso unerklärlicher erscheint Tillmanns Rolle bei der Mitwirkung an der „Aktion T4“: Die Ermordung geistig und körperlich behinderter Menschen im Rahmen des „Euthanasie“-Führererlasses von 1939. Dieser sah bei „nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken“ die „Gewährung des Gnadentodes“ vor, was die organisierte „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von kranken und behinderten Menschen bedeutete. Tillmann hat NS-Ärzte bei dieser Vernichtung unterstützt. Von 1940 bis 1941 fungiert er neben seiner Kölner Waisenhaus-Tätigkeit als Büroleiter in der „Euthanasie“-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, einer Zentraldienststelle der „Kanzlei des Führers“. „Seine Hauptaufgabe“, so Schmidt, „besteht darin, die ´Sonderstandesämter´ und Büroarbeiten der Anstalten zu beaufsichtigen.“ Unter anderem werden von ihm die „Trostbriefabteilungen“ und der Urnenversand beaufsichtigt. Dabei soll „den Angehörigen der Getöteten (…) die wahre Todesursache vollständig verschleiert werden“.
Im August 1941 wurde aufgrund kirchlichen Protests und wachsendem Unmuts in der Bevölkerung die systematische „Euthanasie“-Aktion zumindest „offiziell“ beendet. Inoffiziell aber wurden Kranke und Behinderte weiter „ausgemerzt“. Jedoch ohne die Mitarbeit Tillmanns, der endgültig nach Köln zurückkehrt, und später, wie auch zahlreiche Kölner Waisenkinder, mit seiner Familie im Eifel-Kloster Steinfeld Zuflucht findet. Nach dem Krieg strebt er ergebnislos die Einsetzung in seine alte Position in Köln an. 1950 wird er stellvertretender Leiter einer Jungarbeiter-Heimstätte in Opladen, später führt er ein kommunales Heim in Wolfsburg, bevor er 1957 die Leitung eines „St. Barbara-Berglehrlingsheimes“ in Castrop-Rauxel übernimmt.

Selbstmord oder „tragischer Unfall“?
1959/1960 beginnen die Ermittlungen gegen Tillmann „wegen Beihilfe zum Mord“. Sein anfängliches Leugnen über die Organisation der „Aktion T4“ und seine Zuständigkeit gibt er bald auf. „In einer Vernehmungspause bejaht er die Frage des Staatsanwaltes, ob er persönlich an einer Tötung von Geisteskranken teilgenommen habe“, schreibt Schmidt. Tillmann kommt in Bochum in Untersuchungshaft, Juni 1961 wird ihm Haftverschonung gewährt, August 1963 wird seine erneute Verhaftung abgelehnt, doch muss er sich täglich auf dem „zuständigen Polizeirevier in Köln“ melden. An Aschermittwoch, dem 12. Februar 1964, stürzt Tillmann aus dem achten Stock eines Bürohauses am Habsburgerring in Köln. Ungeklärt bleibt, ob es Selbstmord war oder, wie laut Schmidt Tillmanns Tochter Melitta für die Familie vermutet, ein „tragischer Unfall“.

Zahlreiche Quellen und Unterstützung durch den Sohn des Porträtierten
Schmidt wartet mit einer Vielzahl von (gesicherten) Informationen/Aussagen über und von dem Portraitierten selbst auf. Es sind weit mehr als man in vorhergehenden Veröffentlichungen zu diesem Thema finden wird. Selbstverständlich greift der Autor auf die einschlägige Literatur zurück, unter anderem zu Tillmann publizierte Forschungsergebnisse und Dokumente des Theologen, Sozialpädagogen und Autors Ernst Klee. Besondere Quellen stellen von Schmidt in Archiven, unter anderem in Düsseldorf, Köln und Wiesbaden, durchgesehenen Bestände dar. Zudem konnte der Autor bei seiner Recherche zurückgreifen auf die „wesentliche“ Unterstützung durch Friedrich Tillmanns Sohn Ekkehart und auf dessen Privatarchiv. In diesem Zusammenhang sei hingewiesen auf den 55 Seiten starken Anmerkungsteil, der einerseits erneut Schmidts akribische Arbeitsweise dokumentiert, andererseits die Lektüre bereichert und deren Verständnis erleichtert.

„Nur eine möglichst genaue Erfassung seiner gesamten Existenz kann seine Grenzüberschreitung begreiflich machen“
Für Schmidt gehört Tillmann zu jenen Tätern, die „in einer vom mörderischen Wahn gezeichneten Zeit aus ihrem ´normalen´ Leben heraus und zugleich ihrer Begeisterung über die Erfolge des ´Führers´ und seiner Gefolgsleute anheim(fielen), die keine Widerstandskraft gegen die Unmenschlichkeit des totalitären Regimes aufkommen ließ“. „Nichts wäre ungerechter, als Friedrich Tillmanns Biografie auf die Zeit seiner Tätigkeit in der Berliner ´Euthanasie´-Zentrale zu reduzieren. Dies ist in den bisherigen, meist kurzen Erwähnungen seines Lebens fast ausnahmslos der Fall. Nur eine möglichst genaue Erfassung seiner gesamten Existenz kann seine verhängnisvolle Grenzüberschreitung begreiflich machen“, betont Schmidt einleitend. Selbstverständlich belässt er es nicht bei der isolierten Schilderung der Person Tillmanns. Er nimmt dessen familiäres wie weiteres Umfeld ins Blickfeld; bettet die Biographie ein in das Zeitgeschehen. Schmidt geht knapp ein auf die historischen Vorstufen der NS-„Euthanasie“, auf frühere (auch kirchliche) Stellungnahmen und Standpunkte zur „Sterbehilfe“, auf Propagandisten der „Eugenik“ (Erbgesundheitslehre) – und verknüpft dies wieder mit einem Blick auf die Person und das Umfeld des „kirchentreuen Katholiken Friedrich Tillmann“, der „1940 die Tötungshemmung gegenüber ´Minderwertigen´“ überwunden habe. Ebenso werden Werdegang und Zuständigkeiten von „T4“-Akteuren, das Geflecht von maßgeblich Verantwortlichen, von Funktionären und Zu-/Mitarbeitenden skizziert. Schließlich thematisiert der Autor die „Euthanasie“-Prozesse im Nachkriegsdeutschland, die unverständliche „Schonung der Täter“, ihre in Mediziner- und anderen Kreisen erfahrene Unterstützung sowie ihre Karrieren und „neuen Existenzen“. Schmidt vergisst nicht die Opfer der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation. „Nicht zuletzt den Opfern“ ist sein Buch gewidmet. Es soll ihnen die gebührende Aufmerksamkeit schenken, „die ihnen außerhalb der Familien und mancher Gedenkstätten zumeist versagt wird“.

Das Buch
Klaus Schmidt: „Ich habe aus Mitleid gehandelt“. Der Kölner Waisenhausdirektor und NS-„Euthanasie“-Beauftragte Friedrich Tillmann (1903-1964), 223 Seiten mit wenigen Abbildungen, Berlin 2010, Metropol Verlag, 19,- Euro.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Broich